»Wir haben einen weiten Weg hinter uns, aber angekommen sind wir nirgends.«
Ali McGraw als Carol McCoy in Sam Peckinpahs »Getaway«
»Summer, die ganze Scheiße liegt jetzt im Rückspiegel. Wir können beide ganz von vorn anfangen, einen sauberen Neustart.«
Jack in Eryk Pruitts »Das schnelle Leben«

Wir kommen hier nicht lebend raus

Ein Nachwort von Marcus Müntefering
Empty ammo shell casing in the sand

Vielleicht haben wir uns nach dieser Tour de Force, die Eryk Pruitts »Das schnelle Leben« ist, erst einmal ein Happy-End verdient? Oder zumindest die Illusion eines »Und sie waren zusammen glücklich, bis in alle Ewigkeit, Amen«?

Wer jemals Sam Peckinpahs »Getaway« gesehen hat, wird sich an die seltsam friedlichen Schlussbilder des Films erinnern. Doc und Carol McCoy, das Bankräuberpaar, dessen halsbrecherische Flucht nach diversen Shootouts bis auf eine Müllkippe führte, wo die beiden im Dreck landeten, wie der ganze kapitalistische Müll, der nicht mehr gebraucht oder alt oder kaputt ist, ein Mann und eine Frau, die einander in Misstrauen ebenso wie in Liebe untrennbar verbunden sind, fahren in einem rumpeligen Pick-up-Truck, eine knappe halbe Million Dollar in einer schwarzen Tasche dabei, in Mexiko einer – möglicherweise – verheißungsvollen Zukunft entgegen.

Nur ist das versöhnliche Ende des von Walter Hill geschriebenen und von Steve McQueen, damals, Anfang der Siebzigerjahre einer der größten Stars der Welt, maßgeblich mitbestimmten Films eigentlich gar nicht das Ende dieser Geschichte. Zumindest nicht der Geschichte, die sich Jim Thompson 1958 ausgedacht hatte. Sein Finale ist eines der bizarrsten in der Historie der Kriminalliteratur. Doc und Carol landen in El Rey, wo eine Art Luxusresort geflüchteten Schwerverbrechern einen angenehmen Lebensabend verspricht. Das Problem: Hier ist alles so teuer, dass auch die fetteste Beute nicht lange reicht. Und aus Paranoia entwickeln sich Mordkomplotte und Kannibalismus. Kein Happy-End weit und breit. Eryk Pruitt dürfte Thompsons Version besser gefallen. Viel besser.

In Deutschland ist Pruitt, born and raised in Texas, heute wohnhaft in North Carolina, noch ein völlig Unbekannter. In den USA hingegen kennt man den Schriftsteller, der sich auch schon als Filmemacher, Podcaster und Radiomoderator versucht hat, in Noir-Kreisen recht gut. Zum einen gehört er zu den Autoren, deren Namen im Rahmen der Lesereihe »Noir at the Bar« – Pruitt vergleicht die Events mit dem abgedrehten Lollapalooza-Festival, so Rock’n’Roll seien die Autoren (»zumindest bis die Cosy-Crime-Typen auftauchten«) – immer wieder fallen, oft gemeinsam mit seinem im Nachbarstaat Virginia lebenden, inzwischen sehr erfolgreichen Kumpel S. A. Cosby, Autor von unter anderem »Blacktop Wasteland«. Und zum anderen, weil er vor »Das schnelle Leben« bereits zwei weitere Noirs, »Dirtbags« und »Hashtag«, sowie einen Band mit Kurzgeschichten, »Townies« veröffentlicht hat, in denen übrigens bereits die Orte Lake Castor und Lufkin eine prominente Rolle spielen, eine ideale Ergänzung also für alle, die von Jack und Summer angefixt wurden. Leben kann Pruitt von der Literatur nicht, aber das muss er auch nicht, er betreibt in Hillsborough eine erfolgreiche Bar. Dort gibt es Konzerte und Lesungen und natürlich harte Drinks. Einer davon ist auf Mescal-Basis und trägt den schönen Namen »El Rey«. Und das hat sehr viel mit Pruitts Verehrung für Jim Thompson zu tun.

»Ich bewundere Jim Thompson«, sagt er. »Ich denke, er ist einer der unterschätztesten Schriftsteller überhaupt. Er hat die Dunkelheit, die in uns allen lebt, eingefangen, und seine Prosa war schlank und schön fies.« Pruitts Lieblings-Thompsons sind »Der Mörder in mir« und »Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen«, aber wer »Das schnelle Leben« liest, kommt nicht umhin, an »Getaway« zu denken. Nicht nur weil Pruitts Roman ähnlich wie Thompsons Klassiker in zwei Teile zerfällt, wobei der erste noch vergleichsweise konventionelle Krimikost bietet und der zweite zu einer surrealen Höllenvision gerinnt. »,Dirtbags‘ ist wahrscheinlich der Roman, der am meisten von Thompson hat«, so Pruitt, »aber ich mag den Gedanken, dass Summer und Jack zwei Figuren sind, die direkt aus dem Thompson-Kanon stammen könnten.«

Und tatsächlich erinnern die beiden in der Art, wie sie nicht mit-, aber schon gar nicht ohneeinander sein können, wie sie verschlungen sind in einer amour fou, die eigentlich kein gutes Ende finden kann, an das Ehepaar McCoy. Beide Paare werden niemals den Ort erreichen, an dem sie zusammen glücklich werden. Ihre Pläne werden torpediert durch eine im Kern toxische Beziehung; der anscheinend simple Job, ob es nun darum geht, eine Bank zu überfallen wie bei Thompson oder um das Verticken von geklautem Koks bei Pruitt, muss zwangsläufig aus dem Ruder laufen, in einer Spirale der Gewalt enden. Hoffnung ist eine Illusion, ebenso wie der Glaube daran, irgendwo anders von vorn anfangen zu können. Ob Lake Castor, North Carolina oder Lufkin, Texas, die Muster wiederholen sich, weil Jack und Summer zwar ihre Namen ändern, ihre toxischen Persönlichkeiten aber nicht ablegen können. Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnert, ist bekanntlich dazu verdammt, sie zu wiederholen. Oder es passiert etwas wirklich Fürchterliches.

Auch wie Pruitt seine Geschichte enden lässt, in Paranoia und turboeskalierendem Irrsinn, spiegelt die Schlusskapitel von Thompsons »Getaway«. Es ist mutig und atemberaubend, mit welcher Wucht Pruitt seine eigene Geschichte von zwei Abzockern – der amerikanische Begriffs Grifter ist deutlich griffiger – im zweiten Teil des Romans gegen die Wand fahren lässt, wenn sich Jack, dieser dysfunktionale Grifter, zu einem Guru entwickelt, der an die big three der Sektenführer aus der amerikanischen Geschichte erinnert: an Charles Manson, dessen Mädchen 1968 mit den Tate-LaBiancha-Morden in Los Angeles den Nagel in den Hippiesarg schlugen. An Reverend Jim Jones und seine bizarre Selbstmordsekte The Peoples Temple. Und an David Koresh, der sich 1993 mit seinen Jüngern in der Nähe der texanischen Stadt Waco verschanzte, bis er zusammen mit mehr als 80 anderen bei der Erstürmung durch das FBI ums Leben kam. Manson zitiert Pruitt in den Motti seines Romans. Von Koresh hörte er sich während der Arbeit an »Das schnelle Leben« immer wieder alte Reden an. Mit diesen manipulativen Monstern der Geschichte hat Jack gemein, dass er von Hass getrieben ist. Hass auf die Welt und auf die Frauen. Hass, der von Unsicherheit und Versagensängsten gespeist wird. Ein kleiner Mann, wie es auch Manson war, der wie Jack seine kriminelle Karriere als mieser Gauner begann, schafft es Jack zwar immer wieder, sich in die Betten von Frauen zu quatschen, aber wenn es dann rund gehen soll, versagt er ein ums andere Mal.

Während Jack wie Manson für die Zertrümmerung des Traums von Peace, Love and Understanding steht, klammert sich Summer noch an diese Ideale. Sie hört die Musik von Phish und den Grateful Dead, Bands, die in den USA seit Jahrzehnten für ihre Hardcore-Fans berühmt sind. Die Verehrung, die diesen Musikern entgegengebracht wird, deren Anhänger sie oft monate-, manchmal auch lebenslang begleiten, hat auch etwas von einem Kult. Summer, die den Hippie-Lifestyle gleichzeitig liebt und lebt und ihn ausbeutet, indem sie ihr Wissen und ihre Leidenschaft nutzt, damit die Geschäfte brummen, ist längst an diesem Widerspruch zerbrochen. »Kannst du mir sagen … wer ich bin?«, fragt sie ausgerechnet Jack. Und der antwortet ziemlich pragmatisch: »Du bist diejenige, die mir helfen wird, dieses Kilo Koks an einen Haufen Collegekids zu verticken.« Soul Searching ist nun wirklich nicht sein Ding.

Der ultimative Kult, das ist natürlich die Religion. Und dass Pruitt kein Anhänger von organisierter Religion ist, das merkt man vielen seiner Geschichten an. Da ist es natürlich ein ziemlich guter, weil böser Witz, dass Jack das Kokain ausgerechnet in einer ausgehölten Bibel versteckt. Und dass die Miracle Ranch zunächst ein absolut erbärmliches Bild abgibt, bevor zunächst Summer sie in etwas Gutes oder zumindest Besseres transformiert, ehe Jack ein protofaschistisches Tollhaus daraus formt, einen Ort der Misogynie und der Paranoia.

Man könne nicht über den Süden der USA schreiben, ohne auch über Religion zu schreiben, das wäre eine Lüge, sagt Pruitt, der sich in der Tradition der Literatur des sogenannten »rough south« sieht: »Der Süden, das ist die Welt, die ich jeden Tag sehe. Der Süden ist angsterregend. Hier ist alles darauf aus, dich zu killen, die Flora, die Fauna und die rassistischen Hillbillies. Es gibt hier so viele Möglichkeiten, fies zueinander zu sein, deshalb ist der Süden der optimale Nährboden für Noir. Wir machen hier unsere eigene Musik, unseren eigenen Schnaps, unsere eigene Literatur.«

Grit Lit, so wird eine spezielle Literatur des rauen Südens oft genannt, zu deren bekanntesten Vertretern Autoren wie Harry Crews, Larry Brown oder William Gay gehören. Der Ausdruck wurde nie final definiert, aber in der Regel geht es in den Geschichten um Menschen aus der Unterschicht der Gesellschaft, meist Weiße mit einem Hang zu Alkohol, Drogen und Gewalt. Zwei Definitionen mögen hier helfen, beide sind – Grit Lit lebt auch von ihrem zynischem, stets der Verzweiflung abgerungenem Humor – nicht ganz ernst gemeint. »Wenn in einem Satz zehn Schimpfwörter und ein Pick-up vorkommen, dann handelt es sich ziemlich sicher um Grit Lit«, hat Dorothy Allison, eine der wenigen weiblichen Autoren dieser Literatur, einmal gesagt – schauen Sie ruhig mal, wann der erste Pick-up in »Das schnelle Leben« vorfährt, und versuchen Sie, die Schimpfwörter zu zählen.

Von der in den USA sehr bekannten Kritikerin Nancy Pearl wiederum stammt folgende Definition: »Grit Lit ist bevölkert mit wütenden, kaputten und verzweifelten Figuren, die von Alkohol und Sex angetrieben werden.« Ersetzt man Alkohol durch Drogen, wir hätten eine perfekte Beschreibung von Jack und Summer.

Beide Definitionen stammen aus dem von Tom Franklin und Brian Carpenter herausgegebenen Sammelband »Grit Lit: A Rough South Reader«, der einen ausgezeichneten Einblick in die Szene gibt. Bereits 2012 erscheinen, finden sich hier neben den bereits genannten Autoren auch Stories von Barry Hannah, Tim McLaurin oder Will Allison. Eher die Ausnahme bleiben Schriftsteller, die dem Genre des Country Noir zuzuordnen sind. Man darf aber davon ausgehen, dass eine Neuauflage dieses Readers kaum auf einen S. A. Cosby, einen Brian Panowich oder einen Eryk Pruitt verzichten könnte.

Steph Post, die seit ihrem auf Deutsch im Polar Verlag veröffentlichten Roman »Lightwood« als »offizielle Stimme der Arbeiterklasse in Florida« gilt, hat auf der US-amerikanischen Website crimereads.com den Versuch unternommen, den Begriff Grit Lit auszuweiten, sowohl inhaltlich als auch geografisch. Grit Lit, so sagt sie, sei nicht an den amerikanischen Süden gebunden, nicht einmal an die USA. Darüber zu diskutieren, zum Beispiel ob ein deutscher Autor wie Sven Heuchert mit seinen finsteren Provinzromanen wie »Dunkels Gesetz« nicht letztlich auch Grit Lit schreibt, wäre interessant, würde aber den Rahmen dieses Nachworts sprengen. Und am Ende ist es vielleicht auch ein bisschen egal, welches Label wir einem Roman geben (das ohnehin allzu oft, nehmen wir Scandi-Noir oder Tartan Noir, letztlich nur der besseren Vermarktung dient). Ob »Das schnelle Leben« jetzt Grit Lit ist, Southern Noir, Country Noir oder Dirtbag Noir – was wirklich zählt ist, dass Pruitts Roman zu den wagemutigsten und aufregendsten Romanen der jüngeren Vergangenheit zählt.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den Beginn zurück und die Frage nach dem Happy-End. »Ich werde glücklich sein«, ruft Summer; es ist ihr letzter Satz im Buch. Und natürlich ist dieser Ausruf nicht tröstlich oder versöhnend zu verstehen, sondern Ausdrucks ihres Wahns. Ein Happy-End hat Eryk Pruitt nicht für uns parat, hält der Noir nicht für uns bereit, hat das Leben nicht vorgesehen. Schon der stets verzweifelte und mit nur 29 Jahren auf dem Rücksitz seines Cadillacs gestorbene (aber vielleicht gerade dadurch unsterblich gewordene) Countrysänger Hank Williams wusste: »No matter how I struggle and strive, I’ll never get out of this world alive.«