»Familie, gemeinsamer Albtraum«

Ein Nachwort von Jon Bassoff
©Max Soklov / Adobe Stock

Im Zentrum von Peter Farris’ brillant-schaurigem Roman Letzter Aufruf für die Lebenden steht eine Vater-Sohn-Beziehung – auch wenn man sich nie ganz sicher sein kann, dass sie tatsächlich Vater und Sohn sind. Das bleibt sogar über das Ende hinaus offen. Nur Charlie kennt die Antwort. Er blickt auf seinen DNA-Test und liest das Resultat wieder und wieder, »als könnte er etwas übersehen haben«. Für die Leserinnen und Leser ist das ein wenig frustrierend: Verdammt, ist er jetzt Hicklins Sohn oder nicht? Aber indem er keine klare Antwort auf diese Frage gibt, erinnert Farris daran, dass Familienbande nicht nur Blutsverwandtschaft sind, sondern auf mehr beruhen als auf einem Gentest. Vielmehr gründen sie oft auf gemeinsamen Erlebnissen, auf gemeinsamen Träumen und – in diesem Roman ganz gewiss – auf gemeinsamen Albträumen.

Wenn Hicklin Charlies Vater ist, dann hat er sich für eine ganze Menge zu entschuldigen. Immerhin entführt er Charlie bei ihrer ersten Begegnung mit vorgehaltener Waffe vom Schauplatz eines Verbrechens, bei dem er kurz zuvor Charlies Kollegin und Freundin umgebracht hat. Dann hält er ihn als Geisel in einer verkommenen Berghütte gefangen und verweigert ihm Wasser. Er gestattet sogar seiner Freundin Hummingbird, Charlie gegen dessen Willen mit der Hand zu befriedigen. Symbolisch lässt sich das als Charlies Geburt in der Welt seines Vaters verstehen. Doch trotz aller Schikanen, trotz seiner Bösartigkeit und Schauderhaftigkeit, rettet Hicklin Charlie letztlich vor Lipscomb, dem entsetzlichen Feind. Und ist es nicht genau das, was ein liebender Vater tut?

Gekonnt schildert Farris die Entwicklung – oder vielleicht sollte man besser sagen: das Metastasieren – ihrer Beziehung. Früh im Roman will Hicklin Charlie dazu überreden, eine Zigarette zu rauchen. Noch ganz der Moralist, lehnt Charlie mit dem nicht sehr originellen Hinweis ab, dass Rauchen Krebs verursacht. Was für Hicklin gerade der Witz ist. Er antwortet, Krebs sei »nur ein anderer Name für dasselbe – den Tod«. Und für alles, was zum Tod führt, »sollte es nen verdammten Preis« geben. Zum Ende des Romans, nachdem Charlie Hicklin geholfen hat, Lipscomb zu töten, und im Kugelhagel hat sterben sehen, hat er seine entrüstete Selbstgerechtigkeit verloren. Jetzt imitiert Charlie sogar Hicklin und dreht seine Zigaretten selbst, ein Hinweis darauf, dass er in die Fußstapfen seines Vaters tritt, in Fußstapfen voll Blut.

Es ist insgesamt ein blutiger Roman, in dem sich Menschen wie Tiere verhalten. In einem der verstörendsten Momente des Buchs (und es gibt viele verstörende Momente darin) geht Sheriff Lang Aussagen nach, die behaupten, dass ein Mann ein Mädchen (seine Tochter) an einer Leine durch die Gegend führt. Als er das Mädchen in einem Wohnwagen tief im Wald versteckt findet, ist es »nackt und völlig verdreckt, mit dem eigenen Kot beschmiert«, und auf dem Boden darum »standen Schalen mit Essensresten, Babynahrung, abgestandenem Wasser«. Solche schauderhaften Ereignisse haben Lang »den Glauben an die menschliche Rationalität« verlieren lassen. Jetzt sieht er in der Welt und der Menschheit nur mehr »grausame und sinnlose Experimentierfelder«. Das denkt der Sheriff, der moralische Kompass! Später im Roman, als Lang nach Hicklin und Charlie sucht, sieht er die Überreste eines Wildschweins und ihrer Frischlinge und denkt: »Manchmal wurde einfach gestorben. Es musste nicht immer einen Grund geben.« Für die meisten Tode in diesem Buch gibt es auch keinen Grund, jedenfalls keinen christlichen. Eine Ausnahme ist womöglich Lipscombs Schicksal, das dann besiegelt ist, als er in eine Bärenfalle tritt. Er ist ein Tier, viehisch, und sein Tod ist entsprechend grausam und gewalttätig.

Sogar der Sex ist animalisch. Da gibt es die lieblose Fleischlichkeit zwischen Hummingbird und Charlie, es werden Vergewaltigungen im Gefängnis angedeutet, und Hicklin beschreibt den Sex mit Charlies Mutter mit den Worten: »Einmal hab ich sie so gehämmert, dass ihr das Scheißteil [ihr Glasauge] aus dem Kopf geflogen ist!« Doch was ist mit Charlie? Er ist die sympathischste Figur im Roman. Er lehnt den Rassismus und die Gewalt um sich herum ab, er ist ein Mensch mit echten Träumen, unschuldigen Träumen, in denen er seine Modellraketen fliegen lässt. Ist auch er nur ein Tier? Einmal beobachtet er ein Insekt, das versucht, eine Wand emporzuklettern, und jedes Mal aufs Neue herunterfällt. Ähnlich wie Gregor in Kafkas Die Verwandlung ist er über weite Teile des Romans auf eine Art Insektenrolle reduziert, ohne jede Aussicht auf Entkommen. Aber hinter diesem hilflosen und unschuldigen Äußeren steckt ein ausdauernder Mensch, der nur darauf wartet auszubrechen. Und irgendwann bricht er aus.

Interessanterweise haben sich viele Figuren trotz der sehr großen Portion Nihilismus im Buch einen gewissen Glauben an etwas jenseits ihrer Selbst bewahrt. Während Charlie nur betet, als er sich dem Tod nahe wähnt, glaubt Hicklin wirklich an Gott, auch wenn sein Glaube an die abstoßende Überzeugung eines weißen Suprematismus gekoppelt ist. Und dann gibt es die Szene in der Kirche, die man kaum mehr vergessen kann und in der ein fanatischer Priester in wilden, unverständlichen Zungen spricht und Klapperschlangen aus heiligen Schreinen entkommen. Aber warum sollte man in einem Farris-Roman davon ausgehen, dass es in der Kirche weniger schaurig zugeht? Zuletzt verursachen Schlangen und Kugeln ein Massaker an den Seelen, die versammelte Gemeinde bricht auf dem vor Blut glitschigen Boden zusammen.

Und schon wieder Blut. Es ist nicht ganz fair, Farris’ Roman in eine spezielle Schublade zu stecken, aber der Einfluss des Southern Gothic ist nicht zu leugnen. Es gibt genrebekannte Themen und Motive wie die Geisteskrankheit, das Schaurige und Groteske, die Religiosität und den Rassismus, aber sie dienen vor allem dazu, eine durch und durch amerikanische Geschichte zu erzählen, und stellen nicht nur ein paar Faulknerismen aus. Es ist eine Kriminalgeschichte, kein Lehrstück. Das Zitat, das die Weltsicht des Romans wohl am besten auf den Punkt bringt, ist der Moment, als Hummingbird, die ständig an sich zupfende und kratzende Methsüchtige, fragt: »Das ist wirklich kein Leben hier. Aber wo ist es das schon?« Ja, dem Grotesken begegnet man in diesem Buch an allen Ecken und Enden, genau wie bei den anderen Schwergewichten des Southern Gothic, bei William Faulkner und Flannery O’Connor oder jüngeren Vertretern wie William Gay, Daniel Woodrell und Donald Ray Pollack. Farris’ lebendige Sprache, die treffenden Bilder und einprägsamen Symbole sind der Genannten würdig. Durch den ganzen Roman zieht sich ein Gefühl von Bedrohung, und das nicht nur wegen der trostlosen Umstände, mit denen jede Figur zu kämpfen hat, sondern auch weil die Gewalt »etwas so Natürliches [ist] wie das leise Klatschen des einsetzenden Regens oder das Zirpen der Grillen auf dem Feld hinter dem Haus.«

Auch wenn der Roman größtenteils in der Ödnis der ländlichen Südstaaten spielt, handelt das Buch auch vom Gefängnissystem und den Folgen für diejenigen, die dort eingesperrt sind. Und selbst wenn sie wieder aus dem System entlassen werden, sind die angenommenen, brutalen Gewohnheiten schwer abzulegen. So hält sich Lipscomb beim Sprechen immer eine Hand vor den Mund, damit niemand die Worte von seinen Lippen ablesen kann – eine Taktik, die er im Gefängnis gelernt hat. Der Ehrenkodex aus dem Gefängnis wird ohne Zögern mit nach draußen genommen. Eigentlich haben die ehemaligen Häftlinge im ganzen Roman mehr Angst voreinander als vor der Polizei. Und das ist leicht zu verstehen. Sie sind ebenso ausgebufft wie rücksichtslos und scheinen der Polizei immer einen Schritt voraus. Am Ende ist das brutalste Blutbad auch jenes, das sie aneinander begehen.

In Flannery O’Connors Short Story »Ein guter Mensch ist schwer zu finden« begründet der Täter sein mörderisches Handeln mit folgenden Worten: »Ich hab rausgefunden, dass Verbrechen keine Rolle spielen. Man kann das eine tun oder das andere, jemanden töten oder ihm einen Reifen vom Auto klauen, weil man früher oder später eh vergisst, was genau man getan hat und wofür man bestraft wird.« Er akzeptiert die Ungerechtigkeit der Welt und lebt nach seinem eigenen Gesetz – er lässt andere am Leben, wenn es möglich ist, tötet sie aber, wenn es nötig ist. Beim Lesen von Letzter Aufruf für die Lebenden ging mir stets O’Connor durch den Kopf. Mir schienen gleich mehrere Figuren nach dieser Philosophie zu leben und sich – bewusst oder unbewusst – mit der Verdammnis abgefunden zu haben, die sie mit ziemlicher Sicherheit bald erwarten dürfte. Bei dieser Unmenge an Verbrechen (Raubüberfall, Körperverletzung, Drogen, Entführung und Mord, Mord und nochmals Mord) könnte es einem in der Tat schwerfallen, sich genau zu erinnern, was der Einzelne getan hat und wofür er bestraft wird. Aber irgendetwas haben höchstwahrscheinlich alle getan, und mit ziemlicher Sicherheit werden sie dafür auch bezahlen.

Doch zurück zu Vätern und Söhnen. Wenn man Charlies Leben und die Umstände kennt, mit denen er zurechtkommen musste, kann man nachvollziehen, dass er sich nach einer Vaterfigur sehnt und auch gerne seine Empfindsamkeit ablegen und sich ein dickeres Fell zulegen möchte. Schließlich ist die Welt, die Farris erschaffen hat, von amoralischen Figuren bevölkert, den Hintergrund dazu bildet ein karges, abgetötetes Land. Trotz einigen Momenten menschlicher Nähe unterlegt Farris seinem Roman diese Sichtweise und zwingt uns damit, nach dem schmalen Grat zu suchen, die das zivilisierte Handeln von etwas viel Gewaltsameren und Unmenschlichem trennt.