Was hat dich hierhergebracht?
Ein Nachwort von William Boyle
John Verchers Wintersturm ist ein Roman wie ein Donnerschlag. Er ist nur kurz, aber er hat mehr Wucht und Kraft als viele 900-Seiten-Wälzer, die mir einfallen. Vercher hat alles Fett davon weggeschnitten und nur das Wesentliche stehen gelassen, damit sich der Plot rasant entfalten kann. Es ist eine jener Geschichten, in denen sich die Sünden der Vergangenheit auf die Gegenwart auswirken. In diesem Fall ist die Gegenwart das Pittsburgh von 1995. Hier wird der zweiundzwanzigjährige Bobby Saraceno, ein Sohn einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters, der in der Gastronomie arbeitet und noch bei seiner Mutter Isabel lebt, mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Bobbys bester Freund Aaron wird aus dem Gefängnis, wo er zum radikalen weißen Suprematisten geworden ist, entlassen. Am Abend ihres Wiedersehens schlägt er einen jungen Schwarzen nieder und verletzt ihn schwer. Bobby ist geschockt und bekommt Angst vor Aaron. Denn er verbirgt Aaron etwas: dass er selbst einen schwarzen Vater hat. Isabel hat ihm dies lange verschwiegen, weil sie ihrerseits Angst vor ihrem bigotten Vater und Bobbys Großvater hatte, bei dem er die ersten Jahre aufgewachsen ist. Außerdem hat Isabel Bobby belogen und behauptet, sein Vater sei tot. Doch sein Vater Robert lebt und arbeitet als Arzt in einem Krankenhaus. Roberts und Bobbys Lebenswege kreuzen sich erstmals indirekt und auf tragische Weise. Als Isabel zufällig Robert begegnet, fasst sie den Entschluss, die beiden endlich miteinander bekannt zu machen. Trotz seines beruflichen Erfolgs steckt Robert ebenfalls in einer Lebenskrise, weil er und seine Frau ihr Kind bei einer Fehlgeburt verloren haben und ihre Ehe darüber zerbrochen ist. Diese Figuren treffen auf schicksalhafte Art und Weise aufeinander, und für keines ihrer Probleme gibt es eine einfache Lösung. Als alle ihre Lügen ans Licht kommen, bleibt am Ende nur die nackte Wahrheit übrig. Ihre Leben sind in einem unentwirrbaren Knäuel verstrickt. Sie alle sind angstgetrieben und handeln vor allem im Hinblick auf das eigene Überleben, bis schließlich ihr Selbstbild zerbricht und sie jedes Gefühl für sich verlieren. Wie Vercher diese Figuren einander umtanzen lässt, ist doppelbödig, aufrüttelnd, schonungslos und zugleich voller Mitgefühl.
Der Roman spielt zu einem aufregenden Zeitpunkt in der amerikanischen Geschichte. Nach der brutalen Polizeigewalt gegen Rodney King in Los Angeles und den Unruhen, die sich daran entzündeten, sah es so aus, als würde sich Amerika seiner furchtbaren Geschichte stellen und eine so notwendige wie aussichtslose und dabei völlig verzerrte Debatte über Ethnizität beginnen. Die Konflikte kochten über. Bisher zum Schweigen verurteilte Stimmen erhoben sich. Einem vom Glauben an die Überlegenheit der weißen Rasse zutiefst geprägten Land wurde die Maske heruntergerissen. Informationen zirkulierten auf neuartige und gefährliche Weise. Unheil lag in der Luft. Zum Zeitpunkt des Prozesses gegen O. J. Simpson schien eine Art Massenhysterie um sich zu greifen. Es war wie Amerika unter dem Brennglas – ein Vorfall, der die schwierige Vergangenheit des Landes wie in einem Spiegel erscheinen ließ und in das grelle Blitzlicht von Prominenz und Exzess tauchte. Der Simpson-Prozess ist der zeitgeschichtliche Hintergrund zu Wintersturm und veranlasst gut und weniger gut informierte Figuren, über Rasse und Rassismus zu philosophieren. Vercher handhabt das sehr geschickt, statt den Leserinnen und Lesern eine spezielle Botschaft aufzudrängen, tragen der Simpson-Prozess und die Reaktionen darauf nur zur Romanatmosphäre bei.
Das Buch spielt nicht nur in den 1990ern, es transportiert auch einiges vom Geist der für mich besten künstlerischen Werke jener Zeit, der geprägt ist von großer Entschiedenheit und Menschlichkeit. Dazu gehören die Filme Spike Lees, aber auch mutige kleine Independent-Juwelen wie Nick Gomez’ Laws of Gravity oder ein Buch wie Denis Johnsons Jesus’ Sohn. Durch Hin-und-Her-Springen zwischen den Figuren, die man bei der Auseinandersetzung mit ihren Versäumnissen und Erinnerungen beobachtet, erhält der Romanaufbau eine ansprechende Musikalität. So klar Ethnizität und Identität im Vordergrund stehen, geht es in dem Buch auch um soziale Klassen, den Kampf ums tägliche Überleben und toxische Männlichkeit. Vercher gelingt es hervorragend, in uns Sympathien für Figuren zu wecken, die alles tun, um sich irgendwie durchzuschlagen. Charaktere wie Bobby und Isabel sind durch ihr Umfeld geprägt. Gesellschaftlicher Druck lässt das Gute, das in ihnen steckt, nicht richtig hochkommen. Selbst der Romanbösewicht Aaron erscheint als jemand, bei dem eine andere Entwicklung möglich gewesen wäre. Auch er war ein Junge mit Träumen, Wünschen und Interessen. Verdammt, er hat sogar Comics geliebt! An dieser Art von Menschlichkeit entzündet sich Verchers Erzählen. Für das Monster, zu dem Aaron geworden ist, empfindet man keine Sympathie, aber man fühlt mit dem verlorenen, gehänselten, verunsicherten Kind mit, das er einmal war. Jede Figur blickt zurück auf den einen Moment in der Vergangenheit, in dem sich ihre oder seine Hoffnungen in Luft auflösten und der Bau eines Lügengebäudes notwendig wurde, um das eigene Überleben zu sichern. Doch diese Lügen schwären und zersetzen die Seelen.
Wintersturm ist die mir liebste Art Krimi, ein Roman, der ins Innerste der Gesellschaft blickt und allen Lug und Trug beiseite wischt, welche die Wahrheit verschleiern sollen. Er erinnert mich stark an das Debüt eines meiner Lieblingsschriftsteller, an If He Hollers Let Him Go (1945) von Chester Himes. Er ist genauso stark geschrieben und großartig aufgebaut und reißt unserer Zeit den Schleier vom Gesicht. Er ist zugleich packend, überzeugend, ergreifend und aufschlussreich. Das Allererstaunlichste ist der Hoffnungsfaden, den Vercher in seine Geschichte einwebt. Klar gibt es darin Momente der Wut, des Abscheus, der Gewalt, aber Vercher weiß, dass uns Geschichten Rettung in Aussicht stellen und neue Sichtweisen eröffnen können, und seine Empathie stößt in der Tat Türen auf. Was nicht heißen soll, dass Wintersturm ein Roman mit einer simplen Botschaft ist, ein Thesenroman; statt die Dinge einfach nur zu benennen, illustriert John
Vercher durch eine komplexe Darstellung seine komplexen Themen. Als Bobby in der zweiten Buchhälfte Aaron aus dem Weg zu gehen versucht, sieht er einen Obdachlosen in einem Bus und denkt: Was hat dich hierher gebracht? War’s deine Entscheidung oder war es nur ein Fall von Entropie? Diese Fragen stellt Vercher allen seinen Figuren. Und deswegen, wegen des so unvoreingenommenen und menschlichen Blicks, können auch wir diese Figuren – und die verzweifelte Lage, in die sie sich selbst manövriert haben – mit grimmigem Mitleid betrachten.