Ein schnüffelnder Sozialdemokrat
Ein Nachwort von Carsten Germis
Kriminalromane skandinavischer Schriftsteller gelten als sozialkritisch. Henning Mankell, Håkan Nesser, Jo Nesbø, Jussi Adler-Olsen, Åsa Larsson, Arne Dahl, Anne Holt und Liza Marklund: die Liste der skandinavischen Star-Autoren ist lang. Die Helden ihrer Krimis sind eher Anti-Helden, sie leiden an den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, die ihr Versprechen nicht halten, die tiefe soziale Spaltung der Gesellschaften und Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Der norwegische Krimiautor Gunnar Staalesen ist Teil dieser illustren nordeuropäischen Autorenschar, die gerade in Deutschland seit vielen Jahren erfolgreich ist. Und doch steht der Norweger etwas abseits, ist anders als seine Kollegen aus den skandinavischen Nachbarländern. Als Gunnar Staalesen 1977 seinen ersten Kriminalroman mit dem Privatermittler Varg Veum veröffentlicht hat, war das nicht nur eine ganz bewusste Abkehr von seinen früheren Romanen, sondern auch vom skandinavischen Mainstream. Sein Kriminalroman »Kalte Herzen« steht in dieser Reihe von mittlerweile 19 Varg-Veum Ermittlungen, die einen eigenen Weg gehen.
Wie bei vielen Schriftstellern, die heute zwischen 60 und 75 Jahre alt sind, begann die Leidenschaft für den Kriminalroman auch bei Staalesen in jungen Jahren mit der Lektüre von Klassikern. Bei ihm war es Arthur Conan Doyles Roman »Der Hund der Baskervilles«, dem bis heute international wohl bekanntesten Fall des Privatdetektivs Sherlock Holmes. 1975 entdeckte Staalesen, der sich in Norwegen als Autor auch mit Kinderbüchern und Theaterstücken einen Namen gemacht hat, das Genre Kriminalroman für sich. Er brachte zwei Polizeiromane zu Papier und schrieb in dem Stil, wie er seinerzeit bekannt und beliebt war. Evan Hunter alias Ed McBain hatte damals mit seinen »police procedurals« aus dem 87. Revier den Standard neu gesetzt. Ruppige Privatdetektive wie Dashiell Hammetts Sam Spade oder Raymond Chandlers Philipp Marlowe, die als einsame Wölfe in einer korrupten Welt Verbrechen aufklärten, spielten im wirklichen Leben bei der Aufklärung von Morden nie eine Rolle, rügte Hunter und proklamierte mit seinen realistischen Polizeiromanen die Zeitenwende. In Schweden brachten dann ab Mitte der 1960er Jahre die sozialkritischen Krimis des Autorenpaars Maj Swöjall und Per Wahlöö mit ihrem Kommissar Martin Beck einen völlig neuen Typus von Kriminalroman. Wie für viele seiner Generation sind die beiden Schweden auch für Staalesen der Anstoß gewesen, sich dem Krimi zuzuwenden. »Meine ersten Kriminalromane waren Polizeikrimis, und sie waren eindeutig von den beiden beeinflusst«, sagt er.
Aber der Norweger hat sich, anders als seine schwedischen und dänischen Kollegen, bald umorientiert. Der sozialkritische Blick auf den skandinavischen Wohlfahrtsstaat und die von Geld getriebene Gesellschaft ist geblieben, doch die Einflüsse amerikanischer Hard-Boiled-Autoren auf seinen Erzählstil waren stärker. Mit dem einsamen Wolf Varg Veum schuf Staalesen den ersten norwegischen Privatdetektiv. Es sei ein Experiment gewesen, sagt er. Das Experiment hat sich bewährt und zur Krimiserie verfestigt. Seit nunmehr mehr als 40 Jahren ermittelt Varg Veum in der Hafenstadt Bergen an der Nordwestküste Norwegens. Derzeit sitzt Staalesen am 20. Band der Serie um den eigenbrötlerischen und ruppigen Ermittler. Und er hat nicht vor, die Serie zu beenden.
Der Erfolg Staalesens, der in Norwegen einer der bekanntesten Autoren und in seiner Heimatstadt Bergen mit Varg Veum ein Star ist wie der schottische Krimischriftsteller Ian Rankin und sein Inspektor John Rebus in Edinburgh, liegt in der Mischung. Der Plot ist ihm wichtig, aber das klassische Rätsel – wer war der Täter? – wird vor dem Hintergrund realer gesellschaftlicher Konflikte gelöst. Handwerklich lässt Staalesen deswegen auch auf heute als altmodisch geltende Krimis wie die von Agatha Christie nichts kommen. Die Engländerin ist für ihn bis heute bei der Entwicklung des Plots eine der Besten des Genres.
Staalesen schreibt in der Ich-Perspektive – anders als die meisten skandinavischen Krimiautoren. Die Stimme Vargs scheint ihm so authentischer zu sein, nicht so distanziert wie die Perspektive aus der dritten Person. Auch da steht der Autor aus Bergen in der Tradition Hammetts und Chandlers. Doch so wichtig und eindeutig der Einfluss Chandlers auf Staalesen auch ist, seine Kriminalromane sind beim Plot, stilistisch und in den Dialogen viel näher an den Kriminalromanen Ross Macdonalds – der in den 1950er Jahren in den USA als der Erbe Chandlers galt. Das gilt für den Plot, wo der Amerikaner für ihn das beste Beispiel ist, wie man die Plottechnik der Klassiker in einem modernen Kriminalroman einsetzen kann. Die Nähe zu Macdonald zeigt sich bei allem Witz und aller Würze auch in den Dialogen und nicht zuletzt auch für den wichtigsten Charakter, den Ich-Erzähler Varg Veum. Der Ermittler in Bergen erinnert mehr an Macdonalds Privatdetektiv Lew Archer als an den schnoddrigen Philipp Marlowe. Früher habe er jedes Jahr einen neuen Roman von Ross Macdonald gelesen, nur um sich selbst daran zu erinnern, was für ein guter Schriftsteller er war, sagt Staalesen.
In der skandinavischen Tradition von Sjöwall und Wahlöö bleibt der norwegische Autor verankert, weil die Brüche in der Gesellschaft, die sozialen Ursachen für Kriminalität in seinen Kriminalromanen eine große Rolle spielen. Ungerechtigkeit und wachsende Ungleichheit gibt es auch im durch seine Ölvorkommen reich gewordenen Norwegen. Der Autor erzählt zwar konventionell, aber alle Romane um den bisweilen ruppig auftretenden Ermittler Varg Veum sind mehr als spannend erzählte Geschichten. Sie zeigen Menschen mit ihren Konflikten in der zerrissenen Gesellschaft, in der sie leben. Die Frage, warum ein Mensch zum Mörder wird, treibt nicht nur Staalesen, sie treibt auch seinen Protagonisten um. Was die Kriminalromane um Varg Veum wohltuend von vielen politisch aktivistischen Autoren aus Deutschland unterscheidet, ist, dass Staalesen beim Erzählen auf den moralisch erhobenen Zeigefinger verzichtet. Der Autor traut seinen Lesern etwas zu. Er zieht es vor, in seinen Krimis Fragen aufzuwerfen. Aber er gibt die Antworten nicht. Das müssen die Leser selbst tun. Auch in »Kalte Herzen«, wenn es um die Frage geht, wo Kinder aus sogenannten schwierigen Familien in einer Gesellschaft, in der Klassenunterschiede immer noch über Lebenschancen junger Menschen entscheiden, besser aufgehoben sind. Unter den Fittichen des Sozialstaats oder unter der Fürsorge wohlmeinender Freunde und Nachbarn?
Bei aller Zurückhaltung, wenn es gilt, im Kriminalroman politisch Flagge zu zeigen, fühlt sich Staalesen als linker Autor. 1968 hat der 1947 in der westnorwegischen Hafenstadt Bergen geborene Staalesen sein Studium in seiner Heimatstadt begonnen. Was anderes als ein 68er sollte er also sein? Varg Veum ist zwar ein paar Jahre älter als sein Schöpfer. Aber in Worten und Taten ist auch er eher ein Linker, der sich über soziale Ungerechtigkeit und skrupellose Eliten empören kann. Das hat auch damit zu tun, dass der wie der Autor in Bergen geborene, ein paar Straßen entfernt aufgewachsene und immer in der Hafenstadt gebliebene Privatermittler früher einen anderen Beruf hatte. Als Staalesen die Figur schuf, war der Wohlfahrtsstaat in den skandinavischen Ländern durch Autoren wie Sjöwall und Wahlöö in Diskredit gebracht worden, weil er herrschende Verhältnisse stabilisiere. Varg war Sozialarbeiter, bevor er sich dem Kampf gegen das Verbrechen widmete. Er kennt die Jugendarbeit. Das passte besser zu dem skandinavischen Land als einen Detektiv zu schaffen, der früher selbst bei der Polizei war oder bei der Staatsanwaltschaft. Und es macht es den Lesern plausibel, wenn Varg eben nicht nur Erfahrungen hat, im Milieu drogensüchtiger Jugendlicher, benachteiligter Familien und im Unterbauch der Bergener Gesellschaft zu ermitteln, sondern dabei auch sein soziales Gewissen zu behalten. Staalesen bindet seine Leser durch traditionelles Erzählen, durch Spannung an seinen Ermittler, er verunsichert sie aber auch durch die nüchternen Einblicke in gesellschaftliche Missstände. Die Fälle werden am Ende gelöst. Ein schlichtes »Ende gut, Alles gut« gibt es bei Staalesen jedoch nicht. Nicht für Varg und auch nicht für die Leser.
So schafft der Autor es, dass seine Krimi-Serie nach mehr als 40 Jahren immer noch aktuell ist. Nicht nur, dass Varg in »Kalte Herzen« um die Jahrtausendwende gerade die digitale Welt für seine Ermittlungsarbeit entdeckt, auch die Welt in den Gassen der Hafenstadt Bergen hat sich seit den Anfängen vor gut 40 Jahren verändert. Varg hat sich in »Kalte Herzen« gerade eine E-Mail-Adresse zugelegt und gelernt, »die Autobahnen des Internets zu befahren«. Hege, eine junge Frau, drogensüchtig und auf dem Strich, lässt sich vom Sozialarbeiter nicht retten, der tief in der Seele des Privatermittlers schlummert. Sie hat in Bergens Rotlichtbezirk »neue Beschützer bekommen, diesmal ausländischen Ursprungs.« Norwegen verändert sich, Varg verändert sich mit seiner Heimatstadt. Die Probleme mit der Gewalt von Rechtsextremisten, der Klimawandel und die gesellschaftlichen Veränderungen – die Welt verändert sich an der norwegischen Westküste weiter. Staalesen geht es bei seinen Krimis um die Entscheidungen, die Menschen vor den Herausforderungen für ihr privates, aber auch für ihr politisches Leben treffen. Autor und Held bleiben dabei trotz allem Optimisten. Optimisten, die hoffen, dass die Welt besser werden und dass ein guter Kriminalroman dazu beitragen kann. Varg Veum ist insofern ein typischer Norweger, als er in seinem Herzen ein Sozialdemokrat und ein Kind der modernen Wohlfahrtsgesellschaft ist. Er ist ein hartnäckiger und neugieriger Mensch, der nie aufhört Fragen zu stellen und sich im Verlangen nach Gerechtigkeit traut, auch denen in Bergen Fragen zu stellen und sich mit denen anzulegen, die mächtiger und einflussreicher sind als er. Da ist Varg – gegen den Trend des skandinavischen Krimis – bis heute ganz der private Schnüffler, wie Staalesens Vorbilder Chandler un