Kleine Feuer, überall

Ein Nachwort von Marcus Müntefering
©Max Soklov / Adobe Stock

„Und vielleicht, Harley, müssen Sie einfach nur den ganzen Scheiß abfackeln.“
Paul Reddick in „Pickard County”

„I‘ve always done an honest job, honest as I could.
Got a brother named Frankie, Frankie ain‘t no good.”
Bruce Springsteen, „Highway Patrolman”, vom Album „Nebraska”

Seit 2014 gibt es den Polar Verlag, und er hat sich inzwischen auch einen Namen als deutsche Heimat einer Spielart von Kriminalroman gemacht, die allgemein Country oder Rural Noir genannt wird. Geschichten von Losern und Usern, von desperaten Menschen am Rande der Gesellschaft, von Männern und wenigen Frauen, die weitab von den großen Städten ihr Unwesen treiben oder – leider meist vergeblich – versuchen, das Richtige zu tun. Geschichten, erzählt von bekannteren Altmeistern wie William Gay Stoneburner, vor allem aber von hierzulande zuvor völlig Unbekannten wie J. Todd Scott Die weite Leere, James Anderson Lullaby Road oder Benjamin Whitmer Im Westen nichts. Romane, die, das darf mit Fug und Recht gesagt werden, ohne den Polar Verlag nie in Deutschland veröffentlicht worden wären. Kein schöner Gedanke.

In diese Reihe von Noir-Autoren gehört auch Chris Harding Thornton – und gehört sie auch nicht.

Die 1973 geborene Thornton ist eine Debütantin, ihr Roman Pickard County Atlas, so der Originaltitel, erschien am 5. Januar 2021. Einen Tag, bevor in Washington ein Mann mit orangenen Haaren mittels eines entfesselten Mobs versuchte, die amerikanische Demokratie zu beenden. Ein klassischer Fall von miesem Timing, über den sich Thornton heute amüsiert: Ihr US-Verlag hatte die Veröffentlichung extra um ein paar Monate verschoben, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, als man es während der Präsidentschaftswahlen erwartete.

Pickard County passt zum Polar Verlag, weil er eine neue Autorin in Deutschland einführt, deren Roman auf dem Land spielt. Es gibt Tote, einen Sheriff, viel Finsternis. Und trotzdem ist das Buch im Programm ein Solitär, denn anders als die oben genannten Autoren, hat Thornton eigentlich gar keinen Country Noir geschrieben. Zumindest, so sagt sie selbst, lag das überhaupt nicht in ihrer Absicht: „Für mich ist es eine Ehre, in Gesellschaft dieser Autoren zu sein. Es fühlt sich aber auch noch ein bisschen merkwürdig an. Man hat den Roman einen Rural Noir genannt, aber es gibt gar keine richtigen Verbrechen darin, nur kleinere Vergehen.“
Und tatsächlich: Viele Motive aus dem Country Noir fehlen hier. Es gibt keine Meth-Kocher, keine Schlangenbeschwörer, keine Bankräuber, keinen religiösen Wahnsinn. Und dennoch ist Pickard County sehr noir. Weil es von Menschen erzählt, die in ihren Traumata gefangen sind. Menschen, die nicht an sich böse sind, aber manchmal Dinge tun, die zu nichts Gutem führen.

Thornton ist in Nebraska geboren und aufgewachsen, in einfachen Verhältnissen, abwechselnd bei der Mutter und den Großeltern. Heute lebt sie wieder hier, unterrichtet in Lincoln an der University of Nebraska Schreiben und Literatur. Und sie schreibt über das, was sie kennt: Menschen, die am Rande der Armut in Trailern leben, Einsamkeit, Schmerz, das Gefühl abgehängt zu sein. Sie schreibt über Nebraska, ihre Heimat, die bislang kaum nachhaltige Einträge auf der kulturellen Landkarte der USA hinterlassen hat. Nebraska liegt im Mittleren Westen, mit Grenzen zu sechs weiteren Bundesstaaten, darunter Wyoming und Iowa. Immerhin: Die erfolgreiche Indie-Band Bright Eyes und ihr einflussreiches Label Saddle Creek Records kommen hierher, berühmte Schriftsteller: Fehlanzeige. Wright Morris müsste man eigentlich kennen, sagt Thornton. Aber in den USA ist der gleich doppelt mit dem National Book Award ausgezeichnete Autor fast vergessen, bei uns in Deutschland wurde er gar nicht erst entdeckt.

Und dann ist da noch Bruce Springsteen, der 1982 sein wohl bestes Album „Nebraska“ nannte. Darauf findet sich der Song „Highway Patrolman“, der Sean Penn so sehr beeindruckte, dass er ihm 1991 als Basis für seinen so meisterhaften wie unterschätzten Film „Indian Runner“ diente. Song und Film erzählen die Geschichte zweier Brüder, Frankie, ein Vietnamveteran und Tunichtgut, und Joe, ein Polizist und hingebungsvoller Familienvater. Das Drama, das sich im Film entfaltet, spiegelt sich, wenn auch ganz anders und wie Thornton betont, unabsichtlich, in Pickard County wider. Die Handlung des Romans entspinnt sich zwar im Jahr 1978, könnte aber genauso gut in der Jetztzeit angesiedelt sein – die ländlichen Gegenden in den USA scheinen in ihrer Verlassenheit und Verzweiflung zeitlos zu sein.

Bei Thornton heißen die ungleichen Brüder Rick und Paul. Beide arbeiten für ihren Vater, meistens reparieren sie die Trailer, die viele der Menschen hier in dieser armen Gegend – der Roman spielt in den Sandhills, einer aus Sanddünen bestehenden Region im Westen Nebraskas – ihr Zuhause nennen.

Beide Brüder müssen mit einem Trauma leben; als sie noch Kinder waren, wurde ihr älterer Bruder von einem Landarbeiter umgebracht – die Leiche wurde nie gefunden, das Motiv blieb im Dunkeln, der Mörder hat sich nach der Tat selbst gerichtet. Ein wenig klingt das wie in Springsteens Titelsong vom Album „Nebraska“: „I guess there’s just a meanness in this world”, sagt der 19-jährige Killer Charles Starkweather im Song auf die Frage des Sheriffs, warum er zehn Menschen getötet hat. Seine Lebensgeschichte, und hier schließt sich ein Kreis, diente als Vorlage für einen der Lieblingsfilme von Thornton, den Kinoklassiker „Badlands“ (1973) von Terrence Malick.

Die scheinbare Motivlosigkeit des Mordes an Pauls und Ricks Bruder und die sich anschließende Frage, warum Menschen Böses tun, ist ein Leitmotiv des Romans. „Das ist ein Thema, das mich extrem stark beschäftigt“, sagt Thornton. „Warum wir so unbedingt Ursache und Wirkung brauchen, fast wie Magie, so sehr, dass wir Ursachen konstruieren, wo gar keine sind.“ Alles sei eine Reaktion auf eine Reaktion auf eine Reaktion, so Thornton, und zu einfache Narrative, scheinbare Linearität, machten uns blind für die tatsächlichen, viel komplexeren Zusammenhänge.

Die beiden Brüder gehen ganz unterschiedlich mit ihrem Trauma um, während Rick zu jung geheiratet und ein Kind gezeugt hat und jetzt in einer unglücklichen Ehe lebt – was er nie zugeben würde –, ist Paul ein bad boy, einer, der Drogen nimmt und verkauft und der immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz gerät. Paul ist die lebendigste Figur im Roman – und die komplexteste. Thornton hat ihn auf einigen Freunden aus ihrer Jugend basiert: „Menschen, die keine Zukunft für sich sehen und es genießen, die Leute auf die Palme zu bringen. Ein bisschen was hat Paul auch von mir, wir beide haben Probleme im Umgang mit Autoritätspersonen.“

Thornton hatte lange Mühe, Paul als Figur in den Griff zu bekommen, sagt sie. Erst nachdem sie ihren Roman eine Zeitlang beiseitegelegt und ein Semester Shakespeare unterrichtet hatte, kam ihr die Idee, Paul als eine Art Iago-Figur anzulegen. Als jemand, der wie der Schurke aus „Othello“ scheinbar ohne jeden Grund Unheil anrichtet, in Wahrheit aber Empathie besitzt, tiefe Gefühle.

Pauls Nemesis ist Harley Jensen, ein typischer Kleinstadt-Cop, der seinen Job vor allem wegen der finanziellen Sicherheit macht, nicht weil er großartig an das Gesetz glaubt. Und was er zu tun hat, sind vor allem Petitessen – Otto Ziske, die wohl lustigste Figur in diesem bei aller Düsternis stellenweise auch komischen Roman, dessen (kostenlose!) Zeitung gestohlen wird, ein paar geklaute Klamotten, kleine Feuer, die immer wieder in verlassenen Farmhäusern ausbrechen – und das große, reinigende Feuer am Ende vorwegnehmen. Einer der großartigsten kathartischen Showdowns seit Ewigkeiten, zugleich tragisch und erlösend.

Jede Figur in Pickard County ist auf ihre eigene Art todunglücklich, ist gefangen in ihrer eigenen Subjektivität, und keiner versteht das Unglück des anderen. Einsam ziehen sie ihre Runden, und wenn es einmal zu Kontakten kommt, dann geht das oft nicht gut aus. Niemand hier ist wirklich böse, aber Gutes zu tun, das schaffen die wenigsten.

Thornton, das merkt man, empfindet große Sympathie für ihre Figuren. Weil sie sind wie sie selbst und wie viele Menschen, die sie aus Nebraska kennt. Ihr Großvater verdiente wie Dell Senior sein Geld mit Trailer-Reparaturen, Babe, so etwas wie die das Unheil vorhersagende Cassandra des Romans, sei, so Thornton, wie die Frauen in ihrer Familie. Und sie selbst wurde wie Anna im Roman als Kind – zeitweise – von ihrer Mutter verlassen und wuchs bei ihren Großeltern auf. Ihr Zuhause war lange ein Trailer. Doppelbreit zum Glück.

Was Thorntons Roman so außergewöhnlich macht, ist, dass sie ihre Geschichte nicht auf eine Figur fokussiert. Die Erzählperspektive wechselt ständig, was ihr schon Vergleiche mit William Faulkners Meisterwerk Als ich im Sterben lag eingebracht hat, und auch wenn der Roman mit Harley Jensen, dem Cop, beginnt, so ist er doch nicht, wie man vermuten könnte, die Haupt- oder gar Identifikationsfigur der Geschichte – es ist ein Ensembleroman. Und jede Figur hat ihren eigenen Klang. Thorntons Art zu erzählen hat etwas extrem Rhythmisches, vor allem im amerikanischen Original kann man fast schon hören, wie die Worte klingen, wie die Sätze ihr Tempo suchen und finden.

Musik spielt eine wichtige Rolle im Leben und im Schreiben von Thornton, die früher als Plattenhändlerin gearbeitet hat und das heute noch oft vermisst. Die vielleicht wichtigste Musik für sie stammt von Rowland S. Howard. Die Songs, die der 2009 an Leberkrebs gestobene Musiker mit Bands wie Birthday Party, Crime & the City Solution und These Immortal Souls gespielt hat, grundieren den Roman, sagt Thornton: „Daher kommt meine Art zu erzählen, die Bereitschaft, die Geschichte langsam aufzubauen, die Verwendung von Wiederholungen, die Atmosphäre voller düsterer Vorahnungen.“

Für jede ihrer Figuren hatte Thornton einen eigenen Soundtrack im Kopf. Während Harley eher Country aus den Sechzigern hört und Virginia die tieftraurigen Balladen von George Jones, passe zu Pam die Musik von Tom Petty & the Heartbreakers. Und Paul steht natürlich auf den harten Rock von Black Sabbath oder Led Zeppelin: „Als ich an einer Szene mit Paul saß, habe ich einmal acht Stunden am Stück „When the Levee breaks“ von Led Zeppelin gehört.“

Männer kommen nicht unbedingt besonders gut weg in Pickard County. Einen „Haufen riesiger, hilfloser, verdammter Babys“ seien sie allesamt, befindet Babe, und gerade mal gut genug dafür, Geld zu verdienen. Babe ist fast schon witzig in ihrer anscheinend bodenlosen Negativität; in Thorntons Familie waren viele Frauen wie sie: „Sie sagten Sachen wie, ,Was Besseres als das hier gibt es nicht für dich‘ oder ,Du lebst, und dann stirbst‘ du. Aber andererseits: Nebraska ist ja auch lebensgefährlich. Tornados können dich im Frühjahr umbringen oder Blizzards im Winter. Und es ist ein Ort, der dir mit seiner Weite immer wieder zeigt, wie klein und unbedeutend du bist.“

Eine Erfahrung, die sich ganz am Ende des Romans wiederfindet, als Pam die Entscheidung trifft, die Sandhills, ihren Mann und ihre kleine Tochter zurückzulassen und endlich in eine selbstbestimmte Zukunft aufzubrechen. Ein radikaler Akt der Befreiung – der Thornton durchaus auch heftige Kritik von Müttern eingebracht hat –, den sie aber völlig anders inszeniert, als es andere Schriftsteller tun würden. Nicht triumphal ist Pam im Augenblick ihrer Selbstermächtigung, sondern vielleicht ein bisschen erleichtert, vor allem aber unsicher: „Pam wird vermissen, und Pam wird zweifeln. Aber jetzt, in diesem Augenblick steht sie hier, so klein, wie sie es von sich selbst immer schon gewusst hatte. Klein und unangefleht und nur eine Minute lang hier.“

Pam ist die Figur, mit der die lange Genese von Pickard County begonnen hatte. Das war 2008, damals versuchte sich Thornton am Schreiben von Kurzgeschichten. Doch als die immer länger und komplizierter wurden als geplant, hatte sie die Idee, einen Roman zu schreiben. Und eines Tages hörte sie diese Stimme im Kopf, erregt und wütend, und sie begann zu schreiben. „Als ich Pam hatte, von der ich von Anfang an wusste, dass sie eine zu junge Mutter sein sollte, kamen bald alle anderen Figuren.“ Trotzdem sollte es noch mehr als zehn Jahre dauern, bis sie den Roman vollenden konnte, immer wieder kam etwas dazwischen, meist hatte es damit zu tun, dass sie ihren Lebensunterhalt verdienen musste.

So lange wie für ihren Erstlingsroman braucht Chris Harding Thornton inzwischen nicht mehr. Im Sommer 2022 hat sie ihren neuen Roman fertiggestellt, und diesmal ist es tatsächlich ein Noir geworden. Er spiele in den Dreißigerjahren, verrät Thornton, und ein Privatdetektiv spiele darin eine wichtige Rolle. Und natürlich Nebraska.