Vielschichtige Figuren

Ein Nachwort von Benjamin Whitmer
©Max Soklov / Adobe Stock

In einem Interview mit der Los Angeles Times sagte Attica Locke über ihren Roman Pleasantville: »Ich glaube, ich komme mit diesem politischen Zeug davon, weil es eine Leiche gibt.« In einem Kriminalroman ist eine Leiche immer eine gute Idee, aber ich würde behaupten, dass das politische Zeug genauso wichtig ist.
Genau genommen gibt es wohl keinen Kriminalroman, der nicht gleichzeitig ein Gesellschaftsroman wäre. Das Verbrechen ist schließlich das, was die Grenzen einer Gesellschaft beschreibt, wenn auch nicht in dem Sinne, dass jede Gesellschaft die Verbrecher kriegt, die sie verdient – obwohl selbst das zuzutreffen scheint, wenn man sich in den Vereinigten Staaten umsieht –, sondern insofern die Gesellschaft an sich nichts anderes als eine Grenze ist, die gezogen wird, um bestimmte Leute ein- und andere auszuschließen, und diese Grenze ist das Verbrechen. Gesetzestreue Menschen werden in die Gesellschaft aufgenommen, Verbrecher werden ausgeschlossen. Sie leben, wie man so sagt, außerhalb des Gesetzes – außerhalb gesellschaftlicher Grenzen. In den USA muss man nicht mal ein Verbrecher sein, um ausgeschlossen zu werden. Auch jene, die ihre Strafe verbüßt haben, werden oft noch ausgeschlossen, selbst wenn sie Reue empfinden. Hier können verurteilte Straftäter für gewöhnlich nicht ihr verfassungsmäßiges Recht auf den Besitz einer Schusswaffe ausüben und oft genug nicht einmal wählen. Sie sind Nichtbürger.
Die Frage, wie die gesellschaftlichen Grenzen gezogen werden und wer sie ziehen darf, stellt jeder Kriminalroman. In den USA gibt es zu so gut wie jeder Facette des Lebens ein Gesetz, sodass es praktisch unmöglich ist, sich gesetzeskonform zu verhalten, selbst wenn man sich bemüht. Eine Gesellschaft, die Gesetze erlässt, wie mündige Erwachsene die Straße zu überqueren haben oder wann sie Zigaretten rauchen dürfen, scheint von ihren Bürgern nicht viel zu halten. Daher kann sich diese Grenze anfühlen wie eine sich immer mehr zuziehende Schlinge. Und darum scheint es in gewisser Weise auch zu gehen. Mit jedem neuen Gesetz wird eine neue Grenze gezogen und manche Leute werden aus dem Gesellschaftsvertrag gestrichen, während die Stellung anderer sich festigt. Zigarettenraucher sind jetzt ausgeschlossen, während bis zur Besessenheit Gesundheitsbewusste ungestört auf ihrer kleinen kollektiven Insel leben können, wo sie nur miteinander auskommen müssen. (Die Hölle sind allerdings immer noch die anderen, und diese anderen sind um einiges höllischer als der Durchschnitt.)
Hinsichtlich dieser Grenze sind die meisten amerikanischen Kriminal-romane konservativ, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie aus der Sicht derjenigen geschrieben sind, die für die Aufrechterhaltung der bestehenden Grenze sorgen: Polizisten. Die meisten in den USA verkauften Kriminalromane sind Superheldengeschichten, wobei die Superhelden Detectives sind, die nur hin und wieder unter einem Bourbon-Kater oder etwas Ähnlichem leiden. Sie sind dazu da, die bestehende Grenze zu verkörpern und eine Leserschaft zu beruhigen, die davon ausgeht, dass sie ihrem Schutz dient. Die gesellschaftliche Grenze des Verbrechens wird in den Romanen für natürlich gehalten, dabei unterliegen sie und ihre Repräsentation einem politischen Prozess.
Und hier nun kommt Attica Lockes Pleasantville ins Spiel. Es ist eines der seltenen Beispiele für einen Kriminalroman, der die politische Seite des Verbrechens frontal in den Blick nimmt. Nicht nur weil es ein Politthriller ist, sondern weil es die grundsätzliche Frage stellt, wer diese Grenze ziehen darf. Nicht zufällig bezieht sich der Titel des Buchs, Pleasantville, auf eine Grenze, die sowohl gesellschaftlich als auch politisch gezogen wird.
Das Gelungenste in diesem überaus gelungenen Roman ist vielleicht, auf welche Weise Locke sich der Frage der politischen Macht zuwendet. Sie zeigt eine Welt, in der politische Macht Dreh- und Angelpunkt ist und über das Leben der Menschen bestimmt, und präsentiert uns Figuren, die alles dafür tun, um Macht zu erlangen oder zu behalten. Sie baut diese Fragen in das Gerüst ihres Buchs ein, ohne sich ihnen didaktisch zu nähern und einfache Antworten anzubieten.
Das politische Geschäft ist genauso vertrackt und vielschichtig wie das Verbrechen. Jeder Schritt in die eine Richtung ist ein Rückschritt in der anderen. Locke liefert uns mit Pleasantvilles Geschichte ein Beispiel für dieses Paradox des Fortschritts. Wie sie in dem bereits zitierten Artikel in der Los Angeles Times sagt: »Ich wurde nach der Bürgerrechtsbewegung geboren, und eine der Tragödien dieser Zeit war, dass in der Folge politischer Fortschritt in wirtschaftlichen Fortschritt übersetzt wurde.« Im Mittelpunkt des Romans steht der Verfall einer politischen Macht, die sich auf Gemeinschaft gründet. Und wie wir im Laufe des Buchs erfahren, sind die politischen Machthaber in Pleasantville nicht weniger korrupt als diejenigen, die eine gesellschaftliche Spaltung herbeiführen wollen.
Das alles könnte natürlich zu einem recht guten Soziologiebuch, aber genauso zu einem schrecklichen Roman führen. Es gibt nichts Öderes als einen Roman, der penetrant auf einem politischen Argument herumreitet. Und auch wenn eine Leiche natürlich hilfreich ist, würde ich sagen, dass Locke mit dem politischen Zeug davonkommt, weil sie es in der Lebenserfahrung der Figuren verankert. Die besten Kriminalromane werden von Zärtlichkeit getragen, von der Weigerung, ihren Figuren das Menschliche abzusprechen, während sie gleichzeitig einen kritischen und klarsichtigen Blick auf ihr Handeln werfen.
Mit Pleasantville präsentiert Locke uns eine lebendige, pulsierende Gemeinschaft. Jede der Figuren, egal wie unbedeutend, scheint sie vollständig in Besitz zu nehmen. Keine von ihnen wirkt einfach so hinkonstruiert, um eine bestimmte Ideologie oder ein politisches Thema zu vertreten, sondern sie sind so unterschiedlich, widersprüchlich und menschlich wie jeder, dem man in einer beliebigen amerikanischen Stadt oder einem Dorf auf der Straße begegnen kann. Sie scheinen direkt aus dem Leben gegriffen, selbst diejenigen, von denen wir wissen, dass sie korrupt sind – weil es, und das ist ein weiteres Zeugnis für Lockes Können, keine schlechten Menschen gibt, sondern nur widersprüchliche Menschen mit unterschiedlichen Wünschen. Für mich ist der Roman getragen von dem enormen Einfühlungsvermögen, mit dem Locke ihre Figuren beschreibt. Genau diese empathische Qualität gefällt mir mit am besten an dem Subgenre der Kriminalliteratur, in dem ich selbst schreibe – dem Noir. Einen Noir zu lesen und zu schreiben verlangt großes, banges Mitgefühl. Ich glaube, das meinte Eddie Muller, als er schrieb: »Der Noir will keine ironische Distanz. Er verlangt nach völliger Hingabe: der Bereitschaft, sich an die finstersten Orte zu begeben und noch im Angesicht der Hoffnungslosigkeit mitfühlend zu bleiben.« Wie immer man den Noir definiert, für einen guten Noir muss man bereit sein, sich an Orte zu begeben, wo niemand hinwill, und das oft mit Leuten, mit denen niemand sonst zusammen sein will. Das geht nicht mit einem Augenzwinkern, impliziten Kommentaren oder irgendwelchen anderen Kniffen. Als Autor nimmt man den Leser mit auf diesen Weg und erweitert damit gewissermaßen sein Mitgefühl.
Pleasantville ist kein Noir-Roman. Womöglich hat Dennis Lehane die treffendste Definition von Noir geliefert, als er ihn als »Unterschichtstragödie« bezeichnete. »Bei Shakespeare stürzt der tragische Held von einem Gipfel, im Noir fällt er vom Bordstein.« Pleasantville ist keine Tragödie, dafür ist es viel zu optimistisch, und der Protagonist lässt sich auch kaum als Angehöriger der Unterschicht beschreiben. Aber in keinem Genre gibt es eine empathischere Autorin als Locke. Sie widersteht kategorisch der Versuchung, vorschnelle Urteile über ihre Figuren zu fällen, und erlaubt es auch dem Leser nicht. Sie sorgt sich um ihre Figuren, und das wird in jeder Zeile sichtbar.
Meine Lieblingsfigur ist Rolly, der Kumpel von Jay Porter und tätowierte Chauffeurservice-Anbieter, der nebenher als Jays Ermittler und Vollstrecker arbeitet. Wenn jemand eine Figur erfinden wollte, die besonders an mein Herz rührt, gäbe es keinen besseren Kandidaten als ihn. Die Robicheaux-Romane von James Lee Burke lese ich hauptsächlich wegen Clete Purcell, und Walter Mosleys Easy-Rawlins-Bücher habe ich vor allem wegen Mouse verschlungen. Diesen literarischen Vorgängern steht Rolly mit seinem Humor und seinen Eigenheiten in nichts nach.
Was nicht bedeutet, dass man den Rest der Truppe, mit der Jay sich umgibt, kurz abfertigen sollte. Die Journalistin Lonnie, die Recherchen für ihn übernimmt, ist nicht weniger komplex gezeichnet, ebenso seine Kinder und seine Kanzleigehilfin, eine ältere Frau, die gern mal tagsüber einen hebt. Bei der Lektüre von Pleasantville hatte ich den ersten Jay-Porter-Roman noch nicht gelesen – was ich inzwischen nachgeholt habe –, aber ich habe mich sofort gefühlt, als würde ich in einen Raum mit lauter angenehmen und interessanten Leuten treten, so wie ich es mir auch im richtigen Leben wünsche. Selbst die Antagonisten sind nicht eindimensional. Es gibt niemanden, der nicht als vielschichtiger Mensch gestaltet wäre.
Und dann ist da natürlich Jay selbst. Auf Papier gebannt könnte ein verwitweter alleinerziehender Vater leicht rührselig daherkommen, aber Locke schafft es, ihn als, ja, anständigen, aber auch fehlerbehafteten Menschen zu zeichnen und lässt ihn auf diese Weise lebendig werden. Ich kenne kein überzeugenderes Beispiel dafür, wie sich eine Frau schreibend in den Kopf eines Mannes versetzt, zumindest nicht seit Dorothy B. Hughes in A Lonely Place, wobei es sich hier um ein wesentlich negativeres Beispiel handelt. Allzu sympathische Protagonisten schrecken mich ab, vermutlich mit derselben Inbrunst, wie andere Leser sie mögen, aber Jay hat mich für sich eingenommen. Seit ich das Buch gelesen habe, habe ich mehr über ihn nachgedacht als über einen Großteil meiner Verwandtschaft.
Mit alldem will ich nur etwas aussprechen, das jedem, der Pleasantville gelesen hat, klar ist: Attica Locke hat alles richtig gemacht. Sie hat uns ein Buch geschenkt, das das Thema Verbrechen ernst nimmt und etwas darüber zu sagen hat und das voller interessanter Figuren steckt.
Und zum Glück gibt es auch eine Leiche.

Übersetzt von Andrea Stumpf