Licht und Schatten

Ein Nachwort von Sonja Hartl

 

©Max Soklov / Adobe Stock

In der ersten Folge der ersten Staffel von David Lynchs „Twin Peaks“ gibt es eine ikonische Szene, in der Donna Hayward im Klassenzimmer sitzt und versteht, dass ihrer besten Freundin Laura Palmer etwas zugestoßen ist. Bevor sie anfängt zu weinen, blickt sie zu James Marshall und dann auf den leeren Stuhl an Lauras Platz. In diesem Blick liegen Unglauben, Entsetzen, Trauer – und ein Hauch Schuld. Später in der Serie wird sich herausstellen, warum Donna sich in diesem Moment schuldig fühlt: Sie hat sich in James verliebt, außerdem hat sie geahnt, dass ihre beste Freundin sich in etwas verstrickt hat und sie ihr nicht beistand.

Freundinnen – noch dazu beste Freundinnen – haben in fiktionalen Darstellungen eine besondere Dynamik: es gibt immer eine, die hübscher, beliebter und charmanter ist. Schon in Margaret Millars „Beast in View“ (dt. „Liebe Mutter, es geht mir gut“) aus dem Jahr 1955 wird diese Erkenntnis Teil des Krimi-Plots: Die 30-jährige Helen Carvoe erhält einen Anruf von einer Frau, die sie später vermeintlich als Evelyn Merrick identifiziert. Evelyn war zu Schulzeiten Helens beste Freundin. Sie haben alles miteinander geteilt, stets aber hat Evelyn die Führung und die Entscheidungen übernommen. Dann erkannte Helen auf einem Tanzabend, dass ihre Freundin viel hübscher ist als sie: Evelyn wurde von den Jungen umschwärmt, sie stand in der Ecke. Fortan wünschte sich Helen, dass sie so wie Evelyn wäre – und glaubte, ständig die Enttäuschung in den Augen anderer zu sehen, dass sie doch nur sie selbst war.

Bei Margaret Millar führt diese Erkenntnis zu einem Bruch in der Freundschaft. Helens Sehnsucht nach Evelyn ist so groß, dass sie ihrem anderen Ich ihren Namen gibt. Andere Mädchen und Frauen finden sich mit der Rolle der unscheinbaren Freundin ab – bis die Hübschere, Beliebtere, Mutigere in Schwierigkeiten gerät. Sie verschwindet – wie in Megan Abbotts „Das Ende der Unschuld“ oder Felicity McLeans „Cordie“. Sie stirbt – wie Laura Palmer in „Twin Peaks“. Oder Danielle Reeves in Melissa Ginsburgs „Sunset City“. Für ihre beste Freundin und die Ich-Erzählerin Charlotte Ford ist das ein Schock, Danielle war der „lebendigste Mensch“, den sie kannte. Noch als Detective Ash vor ihrer Tür steht, glaubt sie, Danielle stecke mal wieder in Schwierigkeiten. Sie ist fest entschlossen, ihr zu helfen. „Danielle war meine älteste Freundin, der einzige Mensch auf der Welt, der verstand, woher ich kam. Ich hatte sie in den letzten Jahren kaum gesehen, doch das spielte keine Rolle. Ich war bereit, ihre Kaution zu stellen, für sie zu lügen, ihr ein Alibi zu geben – was immer sie brauchte. Sie war meine Freundin. Ich würde sie beschützen.“ Doch Charlotte kann sie nicht mehr beschützen: Danielle wurde ermordet – zu Tode geschlagen. Zwei Tage vor ihrem Tod hatten sie sich getroffen und miteinander geredet. Allerdings hatten sie zuvor Jahre lang keinen Kontakt mehr miteinander.

Danielle weiß im Grunde genommen also nicht, wer ihre Freundin zu dem Zeitpunkt des Todes war. In vielen Kriminalromanen wäre diese Ausgangssituation nun Anlass für die Hauptfigur, eigene Nachforschungen aufzunehmen. Tatsächlich hat „Sunset City“ auf den ersten Blick auch alle Zutaten, die man von einem hardboiled-Roman erwarten kann: eine schöne tote Frau, einen Cop, der auf der falschen Fährte ist, verführerische Verdächtige und eine unzuverlässige Erzählerin, die die Tote kannte. Doch „Sunset City“ ist kein hardboiled-Roman mit Gender-Twist. Vielmehr liefern der Mordfall, die polizeilichen Ermittlungen, die Vernehmungen und falschen Verdächtigen den äußeren Rahmen, um über Trauer, Sucht, Houston und Freundschaft zu erzählen. Danielle treibt nicht die Suche nach dem Täter an. Sie sucht nach der Wahrheit über ihre Freundin.

Deshalb erinnert sie sich an Danielle. „Wenn ein Junge mich mochte, kam Danielle um die Ecke, heiterer und alberner, und er konnte nicht anders, als sich stattdessen in sie zu verlieben. Es war nicht ihre Schuld. Sie war unwiderstehlich wie Süßigkeiten. Sie strahlte förmlich.“ Charlotte war nicht eifersüchtig auf Danielle, sie war glücklich, dass Danielle mit ihr befreundet sein wollte. Alle anderen Kinder dachten, Charlottes Mutter wäre ein Junkie. Danielle war egal, was die anderen dachten. Deshalb ist die Freundschaft zwischen Danielle und Charlotte nicht toxisch – wie die zwischen Elaine und Cordelia in Margaret Atwoods „Katzenauge“ –, vielmehr weiß Charlotte nicht, was sie ohne Danielle anfangen soll. Deshalb hängt sie sich an Danielles Porno-Kollegin und Freundin Audrey und dem Filmemacher Brandon, die sie vermissen und genauso angezogen von ihr waren wie Charlotte. Danielle ist wie ein Licht für sie. Für Charlotte und Audrey war sie aber auch eine Art Puffer zwischen ihnen und dem Rest der Welt. Danielle, Charlotte und Audrey erinnern an die komplizierten jungen Frauen aus Megan Abbotts Büchern. Sie haben einen selbstbewussten Umgang mit Sex –und verschiedene Traumata. Danielle und Audrey haben sexualisierte Gewalt erfahren. Charlotte ist noch mit dem Tod ihrer Mutter beschäftigt. Sie ist kurz nach ihrem 18. Geburtstag gestorben ist. Durch eine Überdosis – ob absichtlich oder nicht, weiß Charlotte nicht. Für sie und Audrey war Danielle der Fixpunkt. Als sie ihn verlieren, versuchen sie, Danielle durch einander zu ersetzen. Aber sie sind nicht so leuchtende Wesen wie Danielle. Früh gesteht Charlotte: „Sie hatte so viel Macht über mich. Mir machte es oft Angst, wie sehr ich sie liebte und brauchte.“ Und selbst als sie keinen Kontakt miteinander hatten, war ihre Abwesenheit etwas, an das sie sich halten konnte. Ohne sie gerät Charlotte vollends ins Taumeln.

Mit Charlotte driftet man durch den Inner Loop von Houston, stürzt in kleinen Bars ab, besucht Drogenhöhlen, landet in der Ausnüchterungszelle bei der Polizei. Charlottes Houston ist voller schummeriger Ecken, ganz anders als das reiche Viertel River Oaks, in dem Danielle aufgewachsen ist. Ihre wohlhabende Mutter lebt noch immer dort. Kurz vor Danielles Tod hat Charlotte ihr Danielles Telefonnummer gegeben. Möglicherweise steckt dort ein Motiv für den Mord. Aber in diesem Detail zeigt sich abermals, dass das Verbrechen in „Sunset City“ nicht das zentrale Rätsel ist, sondern ein sanft laufender Motor, der Handlung in Bewegung hält: Dass Charlotte wiederholt mit Danielles Mutter spricht und über ihre Geschäfte ausfragt, gibt Einblicke in Danielles Kindheit, die Stadtentwicklung von Houston und einen Anlass, nach River Oaks zu fahren. In Attica Lockes „Pleasantville“ ist River Oaks ein Synonym für ein reiches weißes Viertel. Wären dort zwei Mädchen ermordet worden, hätte die Polizei sicherlich ermittelt, sinniert die Hauptfigur. Aber sie kamen aus dem titelgebenden Pleasantville, im Osten der Stadt, dem Viertel der Schwarzen Mittelschicht. Damit liefert in „Sunset City“ Danielles Herkunft aus River Oaks fast nebenbei die Erklärung dafür, warum die Polizei ihre Ermordung nicht einfach als bedauerlichen Tod einer ex-süchtigen Pornodarstellerin abstempelt. Als gefallenes Mädchen aus dem reichen River Oaks ist Danielle eine jener weißen toten jungen Frauen, die Medien und Polizei interessierten.

Aber Danielle hat die Schattenseiten kennengelernt. Ihre Mutter will bis zuletzt an der blütenweißen Fassade festhalten. Sie findet Euphemismen für Danielles Gefängnisaufenthalt, ihre Sucht, die sexualisierte Gewalt durch den Onkel. Sie passt in das scheinbar perfekte River Oaks, eine Gegend, in der „es ein paar Grad kühler als im Rest der Stadt“ ist. Charlotte indes braucht die Hitze der Stadt. Die Beschreibungen der Orte spiegelt die Zustände der Figuren. Houston ist beengt und großräumig zugleich, großstädtisch und ländlich. Eine Stadt der Hitze und der Kälte. Des Schattens und des Lichts. „Sunset City“ eben. Nur ist Charlotte so erfüllt von Trauer, dass sie den drogeninduzierten Sonnenuntergang dem tatsächlichen vorzieht.

Charlotte hat – wie Donna Hayward – auch ein schlechtes Gewissen. Weil sie sich nicht stärker um Kontakt zu Danielle bemüht hat. Und weil sie glaubt, Danielle sei durch die Tabletten ihrer Mutter überhaupt erst süchtig geworden. Hier steckt in drei Absätzen eine harsche Kritik an der Opiod-Krise in den USA, die durch die fahrlässige und leichtfertige Verschreibung süchtig machender Medikamente entstanden ist: Charlottes Mutter war krank, aber niemand wusste, was sie hat. Sie hat alle möglichen Tabletten genommen: Demerol, Xanax, Percocet, Oxycontin. Und als Charlottes Mutter gestorben ist, wurden diesen Tabletten weiter automatisch geliefert. Danielle und Charlotte waren in der zwölften Klasse, sie waren Teenagerinnen – sie „fingen an, sie an Freunde zu verticken, an Freunde von Freunden, an Kids aus der Schule. Wir machten jede Menge Geld damit, genug für die Miete und alle Rechnungen, ohne arbeiten zu gehen. So lief das ungefähr ein Jahr.“ Für Danielle war das erst der Anfang: Sie begann Heroin zu schnupfen, dann zu drücken.

Charlotte hat versucht ihr zu helfen, aber schon bald war Danielles gesamtes Leben von den Drogen bestimmt. Im Gegensatz zu Danielle – so erzählt sie es zumindest. In ihrer Trauer nimmt sie Drogen, trinkt Unmengen Alkohol. Sie ist eine parteiische, unzuverlässige Erzählerin. In „Sunset City“ ist das kein Mittel, um die Leser*innen in die Irre zu führen wie in den „Girl“-Romanen. Vielmehr sind diese vom Alkohol getrübte Erinnerungen Charlottes Versuch, sich Danielle durch den Rausch nahe zu fühlen. Dabei gelingt es Melissa Ginsburg, dass selbst im Tod noch Danielle alles überstrahlt. Obwohl Charlotte die Ich-Erzählerin ist und daher stets an der Seite der Lesenden steht, ist es schwierig zu erkennen, wen oder was sie eigentlich mag. Sie lässt sich durchs Leben treiben, hat kein Ziel, keine Idee, was sie tun soll. Vom College nimmt sie eine Auszeit, sie jobbt in einem Coffee Shop. Und im Gegensatz zu vielen Männern in Kriminalromanen gibt ihr auch Danielles Tod kein Ziel. Sie will wissen, wer Danielle geworden ist in diesen Jahren, in denen sie keinen Kontakt hatten. Aber wirklich näher kommt sie ihr nicht. Vielleicht konnte man Danielle auch gar nicht nahekommen. Jedenfalls nicht näher als Charlotte ihr einst war.