Lyrisch und brutal

Ein Nachwort von Jon Bassoff
©Max Soklov / Adobe Stock

Am Ende von J. Todd Scotts Thriller Weiße Sonne legt Sheriff Chris Cherry seine Waffe weg und nimmt einen Stift zur Hand. Auch wenn man einen Autor niemals mit einer seiner fiktiven Figuren verwechseln darf, springen einem die Parallelen zwischen Scott, dem zum Schriftsteller gewordenen ehemaligen DEA-Agenten, und Sheriff Cherry förmlich an. Während Cherry sich jedoch mit seiner Geschichte – »eigentlich … nur verschiedene Ideen, aus denen er etwas basteln wollte« – reichlich quält, ist Scott ein konzentrierter und selbstbewusster, ja, meisterhafter Autor. Der Roman ist lang, aber nie langatmig. Trotz einer Vielzahl von Handlungssträngen werden alle kunstvoll miteinander verwoben. Neid auf einen Kollegen gibt kein Autor gerne zu, aber ich gestehe ihn in diesem Fall bereitwillig ein. Ich bin beim Lesen des Buchs neidisch geworden, weil Scott diese großartige Story gelungen ist. Das Buch steckt voller Ideen, und Scott schreibt lyrisch und authentisch, brutal und mitfühlend.
Weiße Sonne liest sich wie ein Thriller inklusive Verfolgungsjagden und Schießereien, aber im Grunde steht der Roman in der Tradition des amerikanischen Western. Beim Lesen spüren wir den heißen Wüstenwind, schmecken wir den roten Sand, hören wir die entfernten Schüsse. Wie in allen großen Western zieht Scott eine klare Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch, und er zeichnet seine Figuren so genau, dass wir ihre Beweggründe und Wünsche nachvollziehen können, sogar diejenigen der Rassisten und Mörder. Wie in Western-Klassikern wie Spiel mir das Lied vom Tod fallen gewalttätige und skrupellose Männer in eine kleine Stadt ein, um dort für Unruhe, Unfrieden und Chaos zu sorgen. Es sind furchteinflößende Gestalten, von oben bis unten mit rassistischen Tattoos übersät, einem von ihnen, dem stummen Psychopathen Joker, fehlt sogar die Zunge. Bei unserer ersten Begegnung mit dieser verkommenen Verbrecherbande hausen die Männer und Frauen auf einer heruntergekommenen Ranch, an einem »toten Ort …, wo die Felsen die Farbe von getrocknetem Blut hatten und der Sand so hell war wie ausgebleichte Knochen.« Das bringt es auf den Punkt. Der Schlimmste von ihnen ist der Anführer John Wesley Earl (eine Anspielung auf den Gesetzlosen John Wesley Hardin, mit Anleihen beim Outlaw aus Flannery O’Connors Kurzgeschichte »Ein guter Mensch ist schwer zu finden«). Auf jeden Zentimeter seiner Haut sind »Keltenkreuze und Totenschädel, Spielkarten und Nazisymbole« eintätowiert, und er hat den trägen »Blick eines Menschen, der es gewohnt ist, sich der Texashitze ohne Sonnenbrille auszusetzen«.
Der Soziopath JW Earl, der nur sich selbst gegenüber loyal ist, hat in der Tat wenig Schätzenswertes an sich, entpuppt sich dafür aber als beeindruckender Bösewicht, mit seiner ständigen Gewaltbereitschaft, seiner Skrupellosigkeit, andere für seine Ziele zu benutzen, und seiner absolut gefährlichen Schläue. Kennzeichnend für seinen Charakter ist das Fehlen von emotionaler Sympathie für seine beiden Söhne, die sich wiederum verzweifelt nach seiner Anerkennung sehnen. Und als er anfängt, Danny Ford wie einen Ersatzsohn zu behandeln, dann nur, weil Danny ihm mehr zu bieten hat als der eigene Nachwuchs. Daher kommt es einem kathartischen Moment gleich, wenn Earl am Ende nicht nur zum Gefangenen der Justiz, sondern auch seines eigenen Körpers wird. Er schaut nicht mal mehr »auf sein Spiegelbild in den verchromten Teilen der Maschinen, die ihn am Leben« halten. In seiner letzten Szene ist er bereit, seinem Schöpfer gegenüberzutreten, und stellt fest, dass »man mit dem Teufel Geschäfte [macht], nur um am Ende festzustellen, dass man selbst der Teufel [ist]«. Nichts weniger als der Teufel in Menschengestalt, das ist er.
Wie alle guten Western kreist auch Weiße Sonne um sittliche Werte und Normen, wobei in diesem Fall die Sehnsucht nach einer verlorenen Familie im Zentrum steht. Da wäre zum einen das bereits erwähnte Verhältnis von JW Earl und seinen Söhnen, zum anderen aber auch Harps Sehnsucht nach der verstorbenen Frau, Americas Trauer um den toten Bruder und Dannys Wunsch, den ermordeten Vater zu rächen. Sämtliche dieser Figuren treffen ihre Entscheidungen aus dem Gefühl eines Verlusts heraus. Harp opfert sein Leben zwar, weil er America und Danny schützen will, aber dies geschieht auch aus dem Bedürfnis heraus, wieder mit seiner Frau vereint zu sein. America versucht immerzu, die eigenen Handlungen mit dem Tod ihres Bruders zu rechtfertigen, doch steht sie wegen ihrer Entscheidung, Deputy zu werden, auf der richtigen Seite. Wenigstens für den Moment. Und dann gibt es noch Danny Ford. Er trägt den Tod seines Vaters wie eine Last – symbolisiert durch die Schwere der geerbten Dienstmarke – mit sich herum. Er lässt sich die Haut mit rassistischen Tätowierungen verschandeln, mischt bei gewalttätigen Auseinandersetzungen mit und schmeichelt sich bei einer Horde Neonazis ein, und das alles nur, weil er an John Wesely Earl, den mutmaßlichen Mörder seines Vaters, herankommen will. Doch dann geschieht etwas Merkwürdiges. Ob es daran liegt, dass Earl für ihn immer mehr zum Vaterersatz wird oder er selbst nicht das Zeug zum Mörder hat, er bringt Earl jedenfalls selbst dann nicht um, als sich ihm die Gelegenheit bietet. Im Tiefsten seines Inneren weiß er, dass dieser Akt der Gewalt weder seinen Vater wieder lebendig macht noch ihm selbst den ersehnten Frieden bringen wird. Stattdessen würde Danny dadurch immer mehr zu einem der Menschen werden, die er hasst und verabscheut.
Und so wird letzten Endes Sheriff Cherry, der Mann, der eine Geschichte schreiben möchte (was dabei wohl rauskäme?), zum moralischen Kompass des Romans. Zwar hat auch er sein Päckchen zu tragen, trotzdem macht er sich gut als Stimme der Vernunft und des Gesetzes, obwohl sein Vorsatz, sich an die sittlichen Normen und Werte zu halten, ihn oft daran hindert, die ungezügelte Gewalt um ihn herum ein für alle Mal zu beenden. Selbst nachdem er auf Earl geschossen hat, kommen ihm noch Zweifel. Hat er richtig gehandelt? Zu America jedenfalls sagt er: »Als ich auf Earl geschossen habe, hatte er seine Waffe zwar auf dich gerichtet, aber … eine Sekunde lang … war ich mir nicht sicher, ob er sie nicht doch fallen lässt und sich ergibt. Eine Sekunde später … ich weiß nicht …« Solche Zweifel kennt America natürlich nicht. Hätte er noch länger gewartet, erklärt sie ihm, wäre sie womöglich tot gewesen. Und er vielleicht auch. Es ist dieser Blick nach innen, gepaart mit dem Willen, sich an das Gesetz zu halten, der Sheriff Cherry zum Helden des Romans macht. Wie Raymond Chandler einmal schrieb: »Durch diese schäbigen Straßen muss ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der eine reine Weste hat und keine Angst. Er ist der Held, er ist alles. Er muss ein ganzer Mensch sein, ein gewöhnlicher Mensch und doch außergewöhnlich. Er muss, um ein abgedroschenes Wort zu benutzen, ein Ehrenmensch sein – aus dem Instinkt heraus, aus einer Zwangsläufigkeit heraus, ohne jemals darüber nachzudenken oder es gar auszusprechen. Er muss in seiner Welt der beste Mensch sein und in jeder anderen zumindest sehr gut.« Raymond Chandler hatte Sheriff Cherry vor Augen.
J. Todd Scott ist etwas Bemerkenswertes gelungen. Er hat einen Roman von reiner Schönheit geschrieben, der gleichzeitig eskapistische Genre-Literatur und anspruchsvolle Literatur ist. Ich hoffe, Ihnen hat das Buch so gut gefallen wie mir. Und ich bin schon gespannt, wohin der texanische Wind Scott als Nächstes tragen wird.