Das Ungesagte vergrößern

Ein Nachwort von Peter Henning
©Max Soklov / Adobe Stock

Mit McDead liegt der nunmehr sechste der insgesamt sieben, zwischen 1998 und 2007 im Original publizierten Fälle aus Ken Bruens sogenannter »Detective Sergeant Tom Brant und Chief Inspector James Roberts-Serie« vor.
Und man muss beileibe kein Kenner der fünf zuvor auf Deutsch erschienenen, seit 2015 bei Polar vorliegenden Bände sein, um sich im Fall von McDead – dem dritten in der zeitlichen Entstehungsfolge der Serie – für die staubtrockene und oftmals herrlich amoralische Attitüde von Bruens Protagonisten zu erwärmen. Denn auch Neueinsteiger in diese Serie wird dessen ganz eigener, aus dem finsterem Vibrato Richard Starks und seiner Parker-Romane und der genialisch exaltierten Metaphorik eines Raymond Chandler amalgamierter Sound auf der Stelle packen.
Zudem erweist Bruen sich in McDead einmal mehr als einer, der die unverwechselbare Atmosphäre seiner im Südosten Londons abrollenden Noir-Schmuckstücke wie im Handumdrehen zu erzeugen vermag: Zwei, drei scharf geschossene, gut belichtete Tottenham-Court-Road-Polaroids zum Einstieg – und wir sind mittendrin in diesem bleihaltigen, von allerlei großen und kleinen Raubfischen bevölkerten Großstadttümpel, in dem das Fressen und Gefressen-Werden an der Tagesordnung ist – und die Metropolitan Police in Person von Brant und Roberts zum Abfischen anrückt, wenn mal wieder einer leblos an dessen Oberfläche treibt.
Im Vorliegenden ist es gleich zu Beginn von McDead kein Geringerer als Roberts Bruder Tony, den es erwischt.
Wie Bruen es gelingt, die letzten Worte zwischen dem Sterbenden und seinem von ihm selbst noch an den Tatort gerufenen Bruder als aberwitzigen Auftakt-Akkord zu einer kleinen schmutzigen Geschichte zu intonieren, die uns im Folgenden ins Innerste der Maschinenräume der Metropolitan Police führt, das ist in seiner geradezu comichaften Lakonie famos.

Sterbe ich?«
Was macht man da? Lügen, dass sich die Balken biegen, und filmreif sagen: »Nee, ist bloß’n Kratzer. Oder die Hand umklammern und sagen: »Ich lass Dich nicht gehen, Bro?«
Chief Inspector Roberts war Profi, unter anderem auch im Lügen …
Ein Brei aus Blut und Schrammen.
Tony öffnete die Augen, na ja, öffnete eins halb. Das andere war zermatscht worden. Anscheinend mit einem Hammer.
Er sagte: »James, kann ich Dir was anbieten?« Und Roberts versuchte, nicht zu lächeln.

Der Rest des Dialogs ist großes Slapstick-Noir – und bildet den Startschuss zu einer mit Tonys Tod anrollenden Geschichte, deren Geist und Stimmung von fern an die legendäre, 1993 von Jimmy McGovern für den britischen Sender ITV ersonnene Serie »Crackers« erinnern, in deren Zentrum der spielsüchtige und Kette rauchende Kriminalpsychologe und Profiler Dr. Edward Fitzgerald steht, der den Kollegen bei der Greater Manchester Police regelmäßig die Lösungen ihrer in Manchesters Arbeiterklasse wurzelnden Fälle auf dem Servierteller präsentiert.
Denn ähnlich wie Bruens Romane um Brant und Roberts bestach McGoverns Serie durch die Schilderung der Interaktionen seiner Figuren (samt ihrer wechselseitigen emotionalen Verstrickungen) und der Art, wie das haltlose Genie »Fitz« bei der Lösung der Fälle seine ermittlungstechnischen Alleingänge zelebrierte.
Der Clou waren dabei Fitzgeralds rhetorische Scharmützel mit dem großmäuligen Zyniker D.S. Beck, dessen miese, von notorischem Sarkasmus, Selbsthass und verschwitzter, falsch verstandener Coolness geleitete Polizeiarbeit zuletzt in Becks Selbstmord mündete.
Becks bornierte und nicht selten menschenverachtende Ermittlungsmethoden dürften Bruen als eine von diversen Inspirationsquellen bei der Ausgestaltung und der Charakterzeichnung des emotional scheinbar ausgekühlten Brutalos Brant gedient haben.
Wo Beck allerdings über seinen vorschnell über mögliche Verdächtige gefällten Verurteilungen schon mal eine Panikattacke erlitt, da stößt Brant – wie in McDead – einem überwältigten Vergewaltiger kurzerhand und ziemlich ungerührt dessen eigenes Messer in die Brust, um es hinterher in seinem Bericht als Suizid darzustellen – getreu seiner Maxime: »Der Sieger schreibt am Ende die Geschichte!«
Und wer als Leser anschließend auf Läuterung oder schlaflose Nächte bei Brant wartet – der wartet vergebens! Von schlechtem Gewissen keine Spur!
Bruen, dessen Werkverzeichnis inzwischen wahrscheinlich umfangreicher sein dürfte als die Zahl jener zweiunddreißig Londoner Stadtteile, in denen seine Brant & Roberts-Serie wahlweise spielt, inszeniert seine Fälle als Momentaufnahmen eines blitzlichtartig erhellten mythischen Raums der Großstadt, in dem sich alles ohne große Worte auf der Stelle zeigt: Die Verbrechen und ihre Verursacher, das Milieu, in denen sie sich vollziehen – und die mal mehr, mal weniger niedrigen Beweggründe, die einen dazu bringen, einem anderen den Schädel einzuschlagen; verlinkt mit jenen, die ihnen mal auf die gesetzlich vorgeschriebene, mal auf illegale Weise das Handwerk zu legen suchen.
Und so, wie visuelle Schärfe und ein entsprechend angepasstes Erzähltempo ihm die Form definieren, so wenig ist bei ihm dabei Platz für Ausschweifungen. Launiges und nicht selten derbes, Philip-Marlowehaftes Gerede: Na klar! Aber Faseln um des Faselns willen? Niemals.
So gesehen übersetzen Bruens Romane ganz nebenbei – und das führt McDead einmal mehr ebenso lässig wie gekonnt vor – Raymond Carvers berühmtes Credo, wonach »in einer Kurzgeschichte jedes Wort zählt!« auf den knappen Noir-Roman seiner Machart.
Jeder einzelne Satz scheint bei dem irischen Erzählerschlitzohr gut abgehangen. Und wenn Bruen seine Satzfolgen beschleunigt, hat man als Leser das Gefühl, einer sich warm laufenden Wörterverdichtungsmaschine dabei zuzusehen, wie sie aus den die Erzählbühne betretenden Figuren – angereichert mit einer gehörigen Prise schwarzen Humor – nach und nach all das herauszupressen und ans Tageslicht zu holen versucht, was sie ausmacht, um sie uns Lesern in ihrer ganzen widersprüchlichen Mehrdimensionalität erklär- und nachvollziehbar zu machen.
Zudem erweist Bruen sich auch im vorliegenden Fall einmal mehr als gewiefter Handwerker, der sehr genau spürt, wie und wann man einen Plot atmosphärisch in der Schwebe hält, ihn drosselt oder eben satt beschleunigt.
So auch in McDead, indem Bruen die Jagd nach dem Mörder geschickt mit der nach einem Vergewaltiger schwarzer Frauen und dem Suizid einer Kollegin von Brant und Roberts multiperspektiv verbindet.

Und dass Bruen getreu Anton Tschechows Forderung, wonach das Gewehr, das in der Bühnendekoration des Ersten Aktes an der Wand hängt, im zweiten losgehen muss, am Ende sämtliche im Bühnendekoration des Ersten Aktes an der Wand hängt, im zweiten losgehen muss, am Ende sämtliche im Buch ausgelegten Erzählstränge einholt und schlüssig abbindet, versteht sich bei einem Schreiber seines Kalibers von selbst.
Natürlich liefert seine Brant & Roberts-Serie zu allererst gute Unterhaltung in Form von Geschichten, die sich beim Lesen wie von selbst im Hirn abspulen. Und niemand wollte ernsthaft behaupten, dass der 1951 im irischen Galway City geborene Schöpfer diverser Irish-Noir-Reihen mit seinen Genrestücken das Blaue vom Himmel über London zu schreiben – und darüber die zeitgenössische Kriminalliteratur neu zu erfinden suche.
Trotzdem sollte man nicht den Fehler begehen, die Komplexität der Brant & Roberts-Serie, die sich im Schatten der »Jack-Taylor-Serie« zwischen 1998 und 2007 kontinuierlich weiter entwickelte, in ihrer scheinbaren Gradlinigkeit zu unterschätzen. Denn neben den vorgeführten Fällen erweisen seine Romane sich – genau betrachtet – auch als atmosphärisch dichte Beschreibungen einer Zeit,– jene der startenden 2000-er Jahre –, deren Puls und Blutdruck er wie nebenbei mit misst.
Infolge der Terroranschläge vom 11. September galt London aufgrund des Einsatzes britischer Truppen im Irak zu jener Zeit als mögliches Anschlagsziel islamischer Terroristen. Und als es im Juli 2005 zu vier Bombenanschlägen kam bei denen 56 Tote und mehr als 700 Verletzte zu beklagen waren, war der große Terror auch in Tony Blairs England für jedermann erkennbar angekommen.
All das wird in McDead mit keiner Silbe explizit erwähnt – bildet aber sehr wohl den atmosphärischen Hintergrund des Romans. Denn Bruen ist zu klug, um nicht so zu tun, als ließe eine Geschichte sich vor realem, geographischem Hintergrund erzählen, ohne davon und den jeweils herrschenden Zeitströmungen erkennbar affiziert zu sein.
Entsprechend lassen die Romane dieser Serie sich auch als veritable London-Romane lesen. Denn wer sich einmal die Mühe macht, seine im Buch benannten Schauplätz per Stadtplan zu überprüfen, der wird sehen, wie skrupulös genau dieser Schriftsteller mit seinem Material umzugehen pflegt.
So hat man beim Lesen das Gefühl, als befände man sich auf einer kurzen, aber aufschlussreichen London-Expedition, bei der man sich wie mit angehaltenem Atem vorwärts bewegt und zusieht, wie im Innern erkennbar beschädigte Siegfried-Figuren den Monstern die Köpfe abzuschlagen versuchen – um die Stadt wenigstens für ein paar Stunden zur Ruhe kommen zu lassen.
Die große libanesische Schriftstellerin Etel Adnan bekannte einmal:
Eine Geschichte kann eine ganz eigene, wie in sich verkapselte Welt sein. Und ihre Resonanz wirkt oft als Verstärker und kann die ihr innewohnende Kraft und das, was ungesagt geblieben ist, vergrößern.«
Ken Bruens »Brant & Roberts«-Romane führen eben dieses besondere Kunststück der Vergrößerung eindrucksvoll vor.