Die Zeit nagt an allem

Ein Nachwort von Günther Grosser
©Max Soklov / Adobe Stock

Er trinkt Milch, nur Milch, und immer nur aus diesen kleinen Kartons; er betreibt eine kleine Firma namens Options Incorporated, bietet Finanzdienstleistungen an und verkauft nebenher CDs per Mailorder. In Wahrheit betrügt er allerdings die Leute, indem er ihnen ihr Gespartes abnimmt, hohe Zinsen verspricht, manchmal, selten, etwas auszahlt, meistens jedoch alles schuldig bleibt – ein sogenanntes Ponzi-System, benannt nach einem der größten Finanzbetrüger seiner Zeit, dem italienischen Immigranten Charles Ponzi, der 1920 in Boston etwa vierzigtausend Investierende mit diesem Trick um zig Millionen Dollar betrog. Er fährt ein uraltes Auto, trägt eine hässliche, geflickte Brille und wohnt immer noch bei seinen Eltern. Er heißt Max Berry. Im Roman. In Wirklichkeit hieß er anders. William Boyle kannte ihn, in einem kurzen Essay für das Online-Magazin CrimeReads nennt er ihn Mr. Bay Ridge, seinen Klarnamen behält er für sich. In einem Interview, zu finden auf der Website des Polar-Verlages, spricht er über ihn: »Er hatte es auf anfällige, wehrlose Leute aus der Arbeiterklasse und auf ältere Menschen abgesehen, die von der Sozialversicherung leben. Er wurde schließlich gefasst und kam ins Gefängnis, aber er hatte in meiner Nachbarschaft und darüber hinaus unermesslichen Schaden angerichtet – viele Menschen verloren ihre Ersparnisse oder einen Teil davon.« Max Berry aka Mr. Bay Ridge gehört neben vielen anderen Figuren, neben den Straßen, den Häusern, den Bars, den Kirchen, den Schulhöfen, den Pizzaläden, dem Geruch und Gestank Brooklyns zu Boyles autobiographischem Konzept.
Und das beginnt bereits mit dem ersten Satz von »Gravesend«, Boyles Debüt von 2013: »Es war Mitte September, und Conway hatte sich von McKenna zu einem Schießstand in Bay Ridge mitnehmen lassen, damit er ihm das Schießen beibrachte.« Da ist es schon, Bay Ridge, die Südwestecke Brooklyns, der westlichste Ausläufer der ellenlangen Insel Long Island; drumherum liegen Gravesend, Bensonhurst, Borough Park; auf der anderen Seite der Bay, in Sichtweite, Staten Island; Manhattan hingegen weit weg im Norden. Es ist nicht das Hipster-Brooklyn um Williamsburg, das liegt fünfzehn U-Bahn-Stationen entfernt. Die Gegend war nie hip und ist es immer noch nicht, es sind die Nachbarschaften, wo die Italiener unter sich bleiben, die Juden ein Viertel weiter, die Russen im Süden. Die Pizza schmeckt hier nur, wenn du sie seit zwanzig Jahren hier isst; du gehst in die Kirche, weil alle immer in die Kirche gegangen sind; pass auf, wenn du nachts hier rumläufst; die Jungs und Mädels von hier, die jünger sind als 15, waren noch nie im sagenhaften Manhattan, obwohl es bloß eine halbe Stunde U-Bahn-Fahrt wäre, aber was sollen sie da? Hierher verirrt sich kein Hipster aus Dumbo und kein Banker von der Upper East Side, die alten Bars halten sie bestenfalls für schäbig, und wenn sie auf dem Weg nach Coney Island doch mal vom Belt Parkway runter und tanken müssen, werden sie zu Recht leicht nervös.
In dieser Ecke, auf der Grenze zwischen Gravesend und Bensonhurst, wächst Boyle in den 1980er und 90er Jahren auf, und dort kehrt er, wie er der Los Angeles Review of Books erzählte »ganz automatisch immer zurück, wenn ich mich zum Schreiben hinsetze«; dort siedelt er alle seine bislang fünf Romane an, und wie man hört wird auch, obwohl er schon lange im Süden, in Mississippi lebt, mindestens der sechste noch dort spielen.
In »Einsame Zeugin« gehen wir mit der guten Amy vom Haus der alten Mrs. Epifanio zur Homestretch Bar: die Bath Avenue lang, an Augie’s Deli und am leeren Grundstück, wo früher Flash Auto war, vorbei, die Bay 34th Street runter, unter der Hochbahntrasse durch, die 86th Street lang, an der HSBC-Bank vorbei, drüben die Schule St. Peter Catholic Academy, 23rd Avenue hoch, dann die Stillwell, schließlich den Kings Highway, und da sind wir, die Homestretch Bar. Später wird Amy hinter Vincent her noch zwei Blocks weitergehen, dann mit ansehen, wie er erstochen wird; so nimmt der Roman Fahrt auf. Derartige Gänge durch die Gemeinde macht Boyle gerne mit uns, oft tigern seine Figuren unentschlossen oder ratlos oder aufgeregt durch die Straßen, und wir spüren, wie er 1200 Meilen, zwei Tagesreisen, entfernt in Mississippi sitzt, die Augen schließt und wieder mal durch die Neighborhood geht; das ist sein Verfahren, und er macht kein Hehl daraus, dass es ihn immer wieder zurückzieht in die alte Heimat.
Richtig wohl fühlen sich in seinem Brooklyn allerdings nur noch die Alten, alle seine jüngeren Figuren zieht es mit Macht woanders hin, sie wollen weg, sie wollen ihre richtigen Leben anfangen, in einem College weit weg, in Hollywood, in Upstate New York, bloß woanders, Bobby, Zeke, Lily, Francesca aus »Shoot the Moonlight Out« auch. Die Fliehkräfte in diesen Geschichten sind enorm, und auch das hat biographische Gründe. »Ich wollte raus. Ich wollte ausbrechen. Ich wollte in den Westen. Ich wollte alles sehen. Ich wollte einfach woanders sein. Aber jetzt, wo ich so lange woanders gelebt habe, fehlt mir Brooklyn sehr. Ich habe eher Angst, es loszulassen. Ich habe das Gefühl, dass ich an einem dünnen Faden mit Brooklyn zusammenhänge. Es ist mein Zuhause. Es wird immer mein Zuhause sein. Ich habe sehr gerne in Oxford, Mississippi und anderswo gelebt, aber ich habe mich nie irgendwo anders zu Hause gefühlt«, sagt er der Los Angeles Review of Books.
In Interviews betont er immer wieder, dass er Leute »wie sie«, Leute wie seine Charaktere gekannt habe; er übernimmt sie jedoch nicht eins zu eins, sondern schärft sie, passt sie seinen und den Bedürfnissen der jeweiligen Geschichte an. Oder er kreiert eine Umkehrfigur wie Jack Cornacchia in »Shoot the Moonlight Out« – er ist das Gegenstück zu Boyles Vater, der sehr früh die Familie verlassen, ja im Stich gelassen hat. Jack nimmt, obwohl er fast alles verliert – erst die Mutter, dann die Frau, schließlich die Tochter – die Dinge in die Hand, strahlt eine tiefsitzende Güte aus, ein großartiger Vater. »Ich erinnere mich, dass ich als Kind ›Leon – Der Profi‹ gesehen habe und dachte: ›Mann, wär er bloß mein Vater‹. Ich war immer auf der Suche nach Vätern in Büchern und Filmen. Ich habe viel davon in die Beziehung von Lily und Jack einfließen lassen.«
Als 2001 zwei Flugzeuge in die Türme krachen, ist er 23. Er braucht weitere zwölf Jahre, bis er mit »Gravesend« einen Roman publizieren kann, hat allerdings bis dahin etliche angefangene und halbfertige in der Schublade verschwinden lassen. 9/11 bedeutet eine Zeitenwende für ihn, »nach diesem Sommer war nichts mehr wie vorher«, und als er mit »Shoot the Moonlight Out« anfängt, entschließt er sich, die Geschichte in jenem Sommer spielen zu lassen. Liest man Boyles Romane in der Reihenfolge ihrer historischen Chronologie, bekommt man eine Kulturgeschichte der Südwestecke Brooklyns, vom kläglichen Verschwinden der Dinge, Orte und Beziehungen und von den hoffnungsvollen Neuanfängen, vom Altwerden und vom Verglühen der Jugend. Besonders intensiv wurde die biografische Orientierung für ihn beim Schreiben von »Brachland«. »Ich war damals zwischen 13 und 16 Jahre alt, lief überall rum, fuhr mit dem Bus zur Schule, ging immer in die gleiche Videothek, die gleiche Pizzeria, prügelte mich auf dem Schulhof, entdeckte die Platten, Bücher und Filme, die mein Leben verändern sollten, und lernte das Böse kennen. Es war eine wirklich wichtige Zeit des Übergangs für mich. Ich weiß nicht, ob es mit dem Gefühl zu tun hat, dass jetzt etwas verloren ist, was damals noch da war, aber es gab definitiv ein tieferes Gefühl von Verwunderung und Distanz.« Mit seinem nächsten Roman wird er noch einmal zurück in die 80er und 90er Jahre gehen.
Es ist nicht die klassische Autobiografie der Ereignisse, des Rückblicks, die Boyle liefert, es ist auch nicht das Memoir der Ausgegrenzten, Vernachlässigten, das späte Erzählen vom Unglück und vom Schmerz, wie es seit Jahren vor allem aus Frankreich kommt, von Annie Ernaux, Edouard Louis oder Didier Eribon. Es ist das Autobiografische der emotionalen Orientierung und der Atmosphäre einer Umgebung, eines Ortes, einer Gegend, die auf der Karte genau bezeichnet werden kann, im Laufe der Zeit, eines Lebens jedoch im langsamen Wechsel begriffen ist. Diese Gegend prägt die Erzählung so sehr wie die Figuren, wie der Plot, treibt sie voran und fixiert sie – und der Ort ist real. Wenn Zeke und Bobby am Anfang des Romans zur Bay Parkway-Auffahrt zockeln, um Dinge auf Autos zu werfen, dann können wir uns darauf verlassen, dass wir diese Auffahrt fänden, wenn wir bei der nächsten New York-Reise mal schauen würden. Vielleicht wäre sogar das Ceasar’s Bay Einkaufscenter daneben noch da, vielleicht auch nicht, die Zeit nagt an allem. Als William Boyle dort alle paar Tage mal vorbeikam, in den 1980er und 90er Jahren, war es noch da, genau wie die Kirche St. Mary Mother of Jesus an der 84sten Straße, eine Bar wie die Homestretch und alles andere auch. »So stellte ich mir den Prozess vor, das Zusammensetzen – ich hatte die ganzen Scherben vor mir, das war mein Puzzle, meine Aufgabe.« Er arbeitet weiter dran, wir lesen.