Das unperfekte Opfer

Ein Nachwort von Sonja Hartl
©Max Soklov / Adobe Stock

Es ist ein unvergesslicher Anfang: die 16-jährige Sam liegt in ihrem Kinderzimmer und schnürt sich selbst mit einer »alte(n), gelbe(n) Decke mit Entenmuster, von der ihre Grandma erzählt hatte, dass sie nach der Geburt darin eingewickelt war«, die Luft ab. Sie tut es, weil es sie erregt. Mit der Schilderung einer Teenagerin einzusteigen, die masturbiert, ist gewagt, aber in diesem Anfang steckt der Kern von Heather Levys »Der süßeste Tod«: In ihrem Roman erzählt sie von Sams Sexualität. Das Abschnüren von Luft bereitet ihr Lust und vermittelt ihr Sicherheit – eine Sicherheit, die sie bereits empfunden hat, als sie als Kind in diese Decke gewickelt war. Doch sie ist brüchig: Seit ihre Mutter mit Isaac verheiratet ist und dieser mit seinem Sohn Eric alias Arrow in das Farmhaus gezogen ist, haben der Teenager und der erwachsene Mann nicht nur ihr Haus »infiltriert«, sondern auch ihre Gedanken. Beim Masturbieren denkt sie an Arrow; Isaacs Selbstsicherheit stößt sie ab, seine Hände ziehen sie an. Sam ist eine Teenagerin mit widerstreitenden Gefühlen, sie will sich und ihre Sexualität ausprobieren. Als Arrow zu ihr sagt, er möchte nicht, dass ihr wehgetan werde, ahnt sie, dass sie genau das auf eine bestimmte Art und Weise will. Sie weiß, dass sie von Schmerzen erregt wird, kennt aber die Spielregeln noch nicht.

Diese Sehnsucht macht sie für Isaac umso interessanter. »Der süßeste Tod« lässt in drastischen Szenen keinen Zweifel daran, dass Isaac ein Mann ist, der Frauen und Teenagerinnen misshandelt und missbraucht. Doch Heather Levy verschiebt die Perspektive auf Sam und fragt sich: Was passiert, wenn ein sadistischer Sexualtäter auf eine Teenagerin mit masochistischen Neigungen trifft? Isaac weiß von Anfang an, wie er Sam manipulieren kann: zunächst versucht er, die zarten Bande zwischen ihr und seinem Sohn zu zerstören. Dann erschleicht er sich allmählich ihr Vertrauen, indem er beispielsweise ihre geliebte Ziege von schrecklichen Qualen erlöst. Das ist das methodische, routinierte Vorgehen eines Sexualtäters, mehrfach erprobt. Vollends in der Hand hat er Sam, als er ausspricht, was sie schon oft gedacht hat, sich aber nicht eingestehen wollte: Eric »wird denken, dass etwas mit dir nicht stimmt. Andere Leute werden das auch denken. Aber ich nicht.« Deshalb beginnt Sam zu glauben, dass Isaac ein Mann ist, der ihr helfen wird, sich selbst besser zu verstehen, weil er sie versteht. Aber das ist ein brutaler Irrtum. Nur weil sie von Schmerzen erregt wird, bedeutet es nicht, dass sie vergewaltigt werden will. »In der normalen Praxis«, so erklärt Heather Levy im Interview, »hätte eine unterwürfige Person wie Sam die Macht, indem sie die Grenzen setzt, was sie tut und was sie nicht will. Zu Beginn weiß Sam genau, was sie als Teenager mag, auch wenn sie ihren Masochismus noch nicht ganz verstanden hat. Ihr Vergewaltiger, der sich mit BDSM-Praktiken besser auskennt, ignoriert jegliche Grenzen und verlagert so die Macht auf sich selbst.«

Tatsächlich verschieben sich die Machtverhältnisse in diesem Roman konstant, er ist an der Schnittstelle von Macht, Begehren und Missbrauch angesiedelt. Dadurch bewegt sich Heather Levy auf dünnem Eis und nicht alle Leser*innen werden Sams Entscheidungen nachvollziehen können. Sie ist »wie die meisten Menschen voller Grauzonen, aber das bedeutet nicht, dass sie ein schlechter Mensch ist.«

In der Literatur ist das Bild von BDSM – trotz einiger anderer Romane – stark durch den Welterfolg von »Fifty Shades of Grey« geprägt, in dem einige problematische Sichtweisen stecken. So greift E.L. James das Romance-Novel-Motiv auf, nachdem sich eine junge, naive, jungfräuliche Frau in einen düsteren, kaputten Typen verliebt und ihn letztlich »heilt«.
Dazu stimmt Anastassia Steele Praktiken zu, die sie nicht will, weil sie schüchtern ist oder Angst hat, Christian Grey zu verlieren. Damit wird die BDSM Grundregel, dass Kommunikation sehr wichtig ist, ebenso ignoriert wie der oben genannte Aspekt, dass die submissive Person die Macht hat, weil sie die Grenzen setzt. Und das ist nur ein Beispiel. Später gibt Christian die dominant-submissive Beziehung zu Ana auf, weil er erkennt, dass er den Missbrauch seiner Kindheit verarbeitet hat. Sex ist hier pathologisch, nicht lustvoll. Das ist der zweite Aspekt, unter dem BDSM oft verhandelt wird: es ist ein Weg, Gewalterfahrungen und -traumatisierungen zu verarbeiten. Damit wurde auch Heather Levy konfrontiert: »Ich spreche offen über meinen Masochismus, und im Laufe der Jahre haben mich die Leute manchmal gefragt, ob ich in meiner Jugend sexuell missbraucht wurde. Sie versuchten, einen Auslöser für meine Sexualität zu finden, obwohl ich in Wahrheit einfach schon immer so war.«

Bei Heather Levy ist Sam eine Teenagerin mit masochistischen Neigungen, bevor ihr sadistischer Stiefvater sie missbraucht und manipuliert. Sie lässt sich auf ihn ein, sie weiß, dass falsch ist, was sie tut, aber sie empfindet es anfangs nicht so, als würde er sie ausnutzen. Das verbindet sie mit anderen Opfern sexualisierter Gewalt. In Kate Elizabeth Russells »Meine dunkle Vanessa« ist Vanessa in ihren Lehrer verliebt, sie freut sich über seine Aufmerksamkeit. Aber sie will den Kinderschlafanzug nicht anziehen, den er ihr gibt, sie will auch keinen Sex mit ihm haben – aber sie macht mit, weil sie ihn nicht verlieren will. Erst als Erwachsene wird ihr allmählich klar, was diese Beziehung war. Und auch das ist typisch für Teenagerinnen: sie glauben, sie seien schon viel erwachsener als sie sind und tragen selbst die Verantwortung für das, was ihnen angetan wird. Sam setzt sich mit ihrem Begehren auseinander, ihr Stiefvater weiß, was sie begehrt – und manipuliert dieses Begehren. In ihrem Alter versteht Sam das nicht ganz. Aber ihr erwachsener Stiefvater versteht es ganz genau.

Auch in Ute Cohens »Satans Spielfeld« weiß der erwachsene Mann, der sich der anfangs 11-jährigen Marie nähert, genau, was er tut. In den folgenden Jahren wird er sie vergewaltigen, schwängern, zur Abtreibung zwingen, Geschäftsfreunden anbieten. Sie gehört ihm, das macht er ihr immer wieder klar. Geschützt wird er von seinem gesellschaftlichen Ansehen und seiner Macht in der Provinz. Diesen Schutz hat Isaac nicht. Er hat etwas anderes: den Schutz von Sams Scham. Sie glaubt, sie müsste sich schämen, dass sie durch Schmerzen Lust empfindet – und als Teenagerin verunsichert einen so vieles, da ist es kein Wunder, dass sie von ihrer Lust irritiert ist. Sie schämt sich für das, was passiert – und vielleicht sogar für sich selbst.

Der Schutz durch Scham ist mächtig. Dazu kommt, dass Sam keines jener perfekten Opfer ist, die in solchen Fällen allzu oft erwartet werden, damit ihnen geglaubt wird. Bei solchen Fällen zeigen sich die weitverbreiteten patriarchale Prägungen: eine junge Frau, eine Teenagerin, sollte einen Mann nicht in Versuchung bringen; sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung sind es nur, wenn das Opfer unmissverständlich gesagt hat, dass es das nicht will; und es muss sofort zur Polizei gehen, den geschundenen Körper als Beweis präsentieren. Wie wirkmächtig diese Strukturen und Wahrnehmungsmuster trotz #Metoo weiterhin sind, hat zuletzt unter anderem der Prozess von Amber Heard und Johnny Depp gezeigt. Amber Heard hat es zunächst gewagt, einem beliebten mächtigen Mann vorzuwerfen, er habe sie misshandelt – und sich dann als unperfektes Opfer erwiesen: Sie hatte Wutausbrüche, ist mutmaßlich ihrem damaligen Partner gegenüber auch gewalttätig geworden, hatte vor ihm Sexualpartner. All das reichte, um der 36-jährigen Schauspielerin nicht zu glauben. Wie glaubwürdig wäre da eine 16-jährige Teenagerin, die von Schmerz erregt wird, wenn sie in den 1990er Jahren im konservativen Oklahoma zur Polizei geht, um ihren Stiefvater anzuzeigen?

Mit »Der süßeste Tod« greift Heather Levy das Bild eines perfekten Opfers an. Es ist in ihren Augen »eine weitere Möglichkeit für die Gesellschaft (ist), das Wort der Überlebenden zu ignorieren. Deshalb ist es wichtig, dass Autor*innen von dieser Vorstellung abrücken und Überlebende als ganz normale Menschen mit Fehlern und schlechten Entscheidungen zeigen.« Tatsächlich muss Literatur der Ort sein, um solche Narrative anzugreifen, gerade weil sich der Backlash gegen #Metoo und weitere Selbstbestimmungsrechte von Frauen so deutlich zeigt. Für Sam findet Heather Levy einen versöhnlichen Abschluss, indem sie erzählt, wie es nach dem Missbrauch weitergeht: Im Jahr 2009 erfährt die 31-jährige Sam, dass die Leiche ihres Stiefvaters gefunden wurde. Dadurch tritt ihr Stiefbruder wieder in ihr Leben, dadurch werden die Erinnerungen an die Zeit damals wachgerüttelt – und auch sie sieht vieles, was damals passiert ist, im Rückblick viel klarer. Mit diesem erzählerischen Kniff erzeugt Levy Spannung – aber es vollzieht sich auf dieser zweiten Zeitebene noch etwas anders: Sam akzeptiert, dass sie Masochistin ist und will ihre Sexualität in ihrer Beziehung ausleben. Deshalb strebt sie das Ideal von BDSM-Beziehungen an: sie zeigt sich verletzlich und hofft darauf, dass Eric und sie einander als diejenigen akzeptieren, die sie sind.