Ich bin (k)ein anderer
Ein Nachwort von Marcus Müntefering
Ausgezeichnet, Sie sind bis hierhergekommen, ans Ende, und das bedeutet hoffentlich, dass Ihnen dieser Roman gefallen hat. Und vielleicht erhoffen Sie sich von diesem Nachwort, dass es Ihnen mehr verrät über den Autor von „Die Höfe“, der sich A.F. Carter nennt. Doch in diesem Fall muss ich Sie leider enttäuschen. Denn A.F. Carter ist ein Pseudonym, und mehr als dass sich hinter diesem Alias ein in den USA erfolgreicher Krimiautor verbirgt – ja, es handelt sich um einen Mann –, der in New York lebt, will er auch nicht von sich preisgeben. Nicht einmal, warum er inzwischen regelmäßig unter diesem Pseudonym veröffentlicht – „Die Höfe“ ist sein zweiter Roman als Carter, in den USA ist mit „The Hostage“ bereits ein weiterer erschienen – mag er verraten. Sie könnten also nur mutmaßen, raten, rätseln – und das bringt bekanntlich nicht viel. Trösten wir uns also damit, dass es ja in Teilen der Literaturkritik ohnehin gerade en vogue ist, Werk und Autor voneinander zu trennen.
Lassen Sie uns in diesem Nachwort an vier prominenten Beispielen ergründen, aus welchen Beweggründen Schriftsteller sich dafür entscheiden, für ein Buch (oder eine ganze Reihe von Romanen) einen anderen Namen als den eigenen zu wählen. Und darüber erzählen, wie diese Pseudonyme schließlich gelüftet wurden. Ich beschränke mich dabei weitgehend auf Krimiautoren, schließlich haben Sie sich mit Carter ja wahrscheinlich bewusst einen Vertreter dieses Genres ausgesucht.
Gründe, ein Pseudonym zu verwenden, gibt es im Überfluss – der Autor schämt sich für sein Werk, etwa weil es erotischer Natur ist; er ist ein notorischer Vielschreiber und sein Verlag tritt auf die Bremse; er ist schüchtern und mag nicht im Mittelpunkt stehen; er hat etwas zu verbergen; er muss Repressalien fürchten, etwa weil er in einem totalitären Regime lebt; er will die Freiheit genießen, jenseits der Erwartungen, die an ihn gestellt werden, zu schreiben. Oder genießt das allgemeine Rätselraten dort draußen – man mag sich doch nur allzu gern die Bestsellerautorin Elena Ferrante vorstellen, wie sie in ihrer Villa über dem Golf von Neapel sitzt und sich über all die aufgeregten Theorien amüsierte, die jahrelang die Runde machten.
Während Ferrantes wahre Identität bis heute nicht zweifelsfrei feststeht, sind viele andere Autoren sehr früh aufgeflogen. In einem recht bekannten Fall sogar schon vor der Veröffentlichung des Romans. Richard Price, Autor von „Clockers“ und „Cash“ sowie zweifach oscarnominierter Drehbuchautor, schrieb 2015 an „The Whites“ (deutsch: „Die Unantastbaren“), und weil dieser Roman anders werden sollte als seine anderen, sehr ambitionierten Werke – „ein temporeicher, handlungsgetriebener Krimi“, schwebte ihm vor, und schnell sollte es gehen –, beschloss Price, für „The Whites“ selbst ein anderer zu werden, ein gewisser Harry Brandt. Doch je länger Price an seinem Roman arbeitete, umso evidenter wurde: Er blieb dabei immer Price. Er hatte gehofft, dass er sich einfach an einigen Genrekonventionen entlanghangeln könnte, schickte diese Regeln aber bald zum Teufel.
Irgendwann dann wünschte er sich, dass er Harry Brandt nie erfunden gehabt hätte; und als das Buch in den USA schließlich auf den Markt kam, stand auf dem Titel von „The Whites“ „Richard Price writing as Harry Brandt“, was allgemein für Irritation sorgte. Denn der Roman ist ein typischer Price, sehr New York, sehr komplex, mit einem tiefen Verständnis für die Ambivalenzen urbanen Zusammenlebens unterschiedlicher Gesellschaftsschichten. Sein deutscher Verlag S. Fischer ließ konsequenterweise das Pseudonym fallen, veröffentlichte „Die Unantastbaren“ einfach als neuen Richard Price. Das Buch gewann 2016 den Deutschen Krimipreis. Seitdem hat Price keinen weiteren Roman geschrieben, was aber, so darf man hoffen, mehr mit seiner Arbeit fürs Fernsehen – er adaptierte unter anderem Stephen Kings „The Outsider“ für HBO – zu tun hat, als mit den Irrungen und Wirrungen rund um sein gescheitertes Pseudonym. R.I.P. Harry Brandt.
Ein einfacher Co-Krimi hatte „The Whites“ werden soll, und Price hatte sich dafür Ed McBain zum Vorbild genommen. Dieser brillante Schnell- und Vielschreiber hat das Genre vielleicht nicht erfunden, setzt aber mit seinen zwischen 1956 und 2005 entstandenen, 55 Romanen über die Cops des 87. Polizeireviers in einer ungenannten Stadt, die natürlich New York City ist, bis heute die Standards für den modernen Polizeiroman.
Ed McBain, ein Name, so tough, so rough – als Name für einen Krimiautor eigentlich zu gut, um wahr zu sein. Und tatsächlich ist er es auch nicht. McBain wurde 1926 als Salvatore Albert Lombino geboren. Doch als er sich Mitte der Fünfzigerjahre Ed McBain nannte, hieß er schon ein paar Jahre lang auch offiziell nicht mehr Lombino, sondern Evan Hunter. Ein super amerikanisch klingender Name, den er wählte, weil er besser fürs Geschäft war, seine Kurzgeschichten unter dem eigenen Namen hatten sich mäßig verkauft. Italienische Autoren galten als Kassengift, bis Mario Puzo 1969 mit „Der Pate“ einen Überraschungsbestseller hatte. „Ich habe früh in meiner Karriere damit begonnen, unterschiedliche Pseudonyme zu verwenden”, erzählte McBain einmal. „Damals verdiente ich einen Viertel Cent pro Wort und musste sehr viel schreiben, um davon leben zu können. Manchmal waren drei oder vier Geschichten von mir in einem einzigen Magazin, ohne dass der Redakteur eine Ahnung davon hatte.“
Als Evan Hunter hingegen stellte sich der Erfolg bald ein, schon sein Romandebüt „Die Saat der Gewalt“ wurde ein Erfolg (wie wenig später auch die Verfilmung von Richard Brooks), und Hunter arbeitete später mit Alfred Hitchcock an „Die Vögel“. Als Hunter mit der Reihe über das 87. Polizeirevier begann, beschloss er, sich Ed McBain zu nennen, weil, wie er sagte, „Krimis damals keinen guten Ruf hatten“.
Doch es sollte nicht bei Hunter und McBain bleiben: als Curt Cannon schrieb er weitere Kriminalromane, für seine Ausflüge in die Science-Fiction nannte er sich gern Hunt Collins, als Richard Marsten schrieb er unter anderem Jugendbücher, und unter dem Pseudonym Dean Hudson sollen annähernd einhundert erotische Geschichten erschienen sein.
Wie Ed McBain bei diesem enormen Output und den vielen Pseudonymen den Überblick und seine geistige Gesundheit behalten konnte, wäre eine literarische Forschungsarbeit wert. Tatsache ist aber, dass sein Werk, was Quantität und Qualität angeht eigentlich nur mit dem des Kommissar-Maigret-Erfinders Georges Simenon zu vergleichen ist, der wiederum seinerseits unter diversen Pseudonymen – eines davon lautet Georges Sim und ist ein beliebtes Lösungswort in Kreuzworträtseln – veröffentlichte, darunter auch echten Schund.
Aber bleiben wir in den USA, in New York City, und kommen noch einmal auf das Thema „geistige Gesundheit“ zu sprechen. „Das Verhältnis zwischen einem Schriftsteller und seinem Pseudonym ist komplex, vor allem dann, wenn das Alter Ego sich weigert, aufzutauchen“, hat Donald E. Westlake 2001 in einem Artikel für die „New York Times“ geschrieben. Er erzählt darin, wie er 40 Jahre zuvor angefangen hatte, eine Reihe von Romanen zu schreiben, die ihn weltberühmt machen sollte. Allerdings nicht unter seinem eigenen Namen, sondern als Richard Stark. Zwei Dutzend Romane um den skrupellosen Verbrecher Parker veröffentlichte Westlake/Stark zwischen 1961 und 2008, dem Jahr in dem er starb. Und so wie McBain den Polizeikrimi unwiderruflich geprägt hatte, wurde Stark der godfather des – in Ermangelung einer besseren Bezeichnung – Berufskriminellengenres, das heute etwa der Australier Garry Disher (der übrigens nie ein Pseudonym benutzt hat) mit seiner „Wyatt“-Reihe bestens bedient.
Erfunden hatte Westlake sein Alter Ego Stark, weil er zu viel schrieb, um alles unter demselben Namen zu veröffentlichen (ein typisches Verlegerargument). Dass die Parker-Romane so erfolgreich wurden, überraschte ihn selbst, und es fühlte sich seltsam für ihn an, dass sein Pseudonym bald bekannter war als sein echter Name. Doch dann, Mitte der Siebziger, verschwand Stark einfach – Westlake bekam als Stark keinen geraden Satz mehr zustande, egal was er versuchte. Rund zwanzig Jahre dauerte dieser Zustand an – eine Zeit, in der eine ganze Reihe Nicht-Parkers veröffentlichte, einige davon übrigens unter weiteren Pseudonymen. Eine partielle Schreibblockade – das klingt schon ein wenig schizophren.
Möglicherweise wäre Stark nie wieder aufgetaucht, wenn da nicht die Geschichte mit Stephen Frears passiert wäre. Der britische Filmemacher engagierte Westlake, um das Drehbuch für die Jim-Thomson-Verfilmung „The Grifters“ zu schreiben. Nur dass er nicht Westlake im Team haben wollte, sondern Stark. Und auch wenn Westlake schließlich durchsetzen konnte, dass er unter seinem Geburtsnamen im Abspann aufgeführt wurde, brachte die Arbeit mit Thompsons Roman am Ende doch Richard Stark wieder zum Vorschein. Einige Jahre danach, 1997, gab es endlich einen neuen Parker – einzig möglicher Titel natürlich: „Comeback“ (auf Deutsch etwas blumiger: „Verbrechen ist Vertrauenssache“).
Westlake/Stark hat bis heute unzählige Bewunderer, und der bekannteste unter ihnen ist sicherlich Stephen King. Jeder neue Roman von ihm sei ein Grund glücklich zu sein, sagte King einmal. Und dann schrieb er seinen Bestseller „The Dark Half“ und nannte seinen Bösewicht ausgerechnet George Stark. „The Dark Half“ gehört zu Kings furchterregendsten Romanen. Hier entwickelt sich ein Pseudonym zu einer realen Bedrohung. Thad Beaumont, wie King selbst trockener Alkoholiker – ist mit seinen eigenen Romanen wenig erfolgreich, schreibt aber seit Jahren als George Stark Bestseller über einen psychopathischen Killer. Als das Pseudonym kein Geheimnis mehr ist, beschließt er, in einer Pseudozeremonie sein ohnehin ungeliebtes Alter Ego zu begraben. Es gibt nur ein Problem: Stark weigert sich zu sterben und richtet fortan reichlich Unheil an.
King hat in „The Dark Half“ nicht nur Westlake/Stark eine Reminiszenz erwiesen, sondern auch seine eigene Geschichte verarbeitet: Zu Beginn seiner Karriere, zwischen 1977 und 1984, veröffentlichte er fünf Romane unter dem Pseudonym Richard Bachman, der Nachname leitet sich von der Rockband Bachman Turner Overdrive ab, der Vorname – Überraschung! – von Richard Stark. Es sollte einige Jahre dauern, bis das Pseudonym gelüftet werden würde – die heißeste Spur war, dass King seine Bachman-Bücher Menschen widmete, die ihm nahestanden. Für King war das Pseudonym zunächst eine Art Spiel, auch ein Versuch zu schauen, ob er ohne seinen Namen, der seit „Carrie“ und „Shining“ eine Bestsellergarantie war, Erfolg haben würde. Ein Spiel, das Spaß machte, aber wenig Ertrag brachte: Die Verkäufe waren moderat, bis das Pseudonym schließlich aufgedeckt wurde und sich die Verkaufszahlen schnell verzehnfachten. Als das Spiel dann nicht mehr lustig war, Mitte der Achtziger, ließ King seine Erfindung Bachman an einem Gehirntumor sterben. Würde er eines Tages zurückkehren wie Richard Stark für Donald Westlake oder George Stark für Thad Beaumont? In einem Vorwort zu einem US-Sammelband der Bachman-Romane ließ King die Frage noch offen. Aber natürlich, 1997 und 2007 wurden zwei weitere Bachmans veröffentlicht.
Es gäbe noch unendlich viele weitere Geschichten über Schriftsteller und ihre Alter Egos zu erzählen. Nur leider ist kein Platz mehr für John Banville und seinen „bösen Bruder“ Benjamin Black, für Julian Barnes, der bis heute nicht auf seine Krimireihe um den schwulen Ex-Cop Nick Duffy angesprochen werden will, für den wiederum homosexuellen Feingeist Gore Vidal, der als Edgar Box toughen Macho-Pulp schrieb, und auch nicht für Joanne (J.K.) Rowling (das K. ist übrigens frei erfunden, weil Rowlings Verleger meinte, ein Frauenname könne potenzielle Fantasy-Leser abschrecken) und die Aufdeckung ihrer Zweitkarriere als Autorin der Cormoran-Strike-Krimis unter dem Männernamen Robert Galbraith, eine Geschichte, die fast so spannend ist wie ein Thriller.
Aber vielleicht ergibt sich demnächst eine Gelegenheit für eine Fortsetzung? Vielleicht wenn der Polar Verlag „The Hostage“ veröffentlicht, die Fortsetzung von A.F. Carters „Die Höfe“, die ein Wiedersehen mit der kaputten, bedrohten, bedrohlichen Kleinstadt Baxter und ihrer eigenwilligen Polizistin Delia Mariola bietet.