Das Virus des Bösen

Ein Nachwort von Carsten Germis
©Max Soklov/Adobe Stock

Für Stefán Máni begann der Weg zum Autor von Kriminalromanen mit Zeitungsausschnitten. Schon als Kind in der Grundschule schnitt er aus den Zeitungen spannende Meldungen über Verbrechen und Berichte über internationalen Terrorismus aus. Der im Juni 1971 in der isländischen Hauptstadt Reykjavik geborene Autor verbrachte seine Kindheit und Jugend in einem kleinen Fischerdorf an der Westküste Islands. Die Gegend ist kalt, die Landschaft rau. Zu karg und zu friedlich ist es dort in den 1970er und 1980er Jahren für einen aufgeweckten Jungen gewesen. Es war wenig los. Der Jugendliche flüchtete in die Welt der Phantasie und in die Musik. Mit 17 beschloss er, die Schule zu verlassen und machte sich auf den Weg, in der Ferne Abenteuer zu suchen. Noch heute ist ein Mord eine seltene Sache auf der Insel im Nordatlantik.
Zeitungsmeldungen über einen Banküberfall, Artikel über Drogenschmuggel, Berichte über vermisste Personen. Alles schnitt der Junge damals aus. Wenn in der ruhigen Gegend mal etwas passierte, waren die Medien voll davon. Für Máni bedeutete das – eine große Sammlung an neuen Zeitungsausschnitten.

Die ersten Meldungen über Kriminalfälle riss Máni aus, als er sechs Jahre alt war. Mit 23 begann er seinen ersten Roman und griff in die Kisten mit dem alten Material. Er hatte damals gerade seine Arbeit in einer Fischfabrik verloren. Eine weiterführende Schule hat er auch später nie besucht, er arbeitete als Fischer, als Bauarbeiter und auch als Pflegehelfer in der Psychiatrie. Hatte er genug Geld, zog es ihn immer wieder auf lange Auslandsreisen. Die USA, Konzerte, am liebsten Hard Rock und Heavy Metal, gaben die Route vor. Schon diese Lebenserfahrung lässt ihn anders schreiben als viele der ambitionierten Krimischriftsteller mit ihrem akademischen und urbanen Hintergrund. Auch Máni zog es am Ende wieder in die isländische Hauptstadt, wo er bis heute wohnt.

Grundlage des Krimis, der in Island seinen Durchbruch brachte, waren die Zeitungsausschnitte über zwei Banküberfälle in seiner Jugendzeit, die er aufgehoben hatte. »Ich habe mich schon immer für Verbrechen und vor allem für Verbrecher und den kriminellen Geist interessiert«, sagt Máni. Warum begehen Menschen Verbrechen? Wurden sie böse geboren oder hat die Gesellschaft sie verändert? Er plante die Raubüberfälle, die während seiner Jugend das Land erregten, durch die Brille seiner Figuren. Máni recherchierte, er sprach mit Kriminellen, er versuchte zu verstehen, wie die Überfälle damals verübt wurden, wie die Täter es schafften, nicht entdeckt zu werden. Der Roman, Black’s Game – Kaltes Land, war ein Erfolg, 2012 wurde er verfilmt.

Mit dem Erfolg kamen die Literaturpreise. Mehrere seiner Bücher wurden für den Skandinavischen Krimipreis nominiert. Máni selbst spricht von sich als dem »Schwarzen Prinzen des nordischen Noirs«. Dabei erfüllt der Autor kaum eines der Klischees, die sich mit den gerade in Deutschland so erfolgreichen Kriminalromanen aus Schweden, Dänemark oder Norwegen verbinden. Skandinavische Krimis stehen seit dem Beginn mit dem schwedischen Autorenpaar
Maj Sjöwall und Per Wahlöö fest in der Tradition des sozialkritischen Kriminalromans. Auch der Schwede Henning Mankell steht in dieser Reihe, bis zuletzt nahmen politische und gesellschaftliche Themen in seinen Büchern viel Raum ein. Máni beschreibt Mankell als den skandinavischen Krimi-Autoren, der ihn am meisten beeinflusst habe. Für Máni ist Mankell der Pionier und bis heute immer noch der Beste.

Natürlich spielen Politik und gesellschaftliche Konflikte auch bei Máni eine wichtige Rolle. Doch sie stehen nicht in der ersten Reihe. Er interessiere sich nicht so für Politik, sagt er. Er interessiert sich auch als Schriftsteller mehr für altes Wissen, für Mythen und für die unsterblichen Züge der Existenz. So dankt er am Ende seines Romans Abgrund auch seinem Vater und seiner Mutter für »das geteilte alte Wissen«. Máni sieht sich selbst als »eine alte Seele«. Die karge, die mystische Landschaft des nordischen Landes, die alten Sagen, die Legenden hinterlassen ihre Spuren in seinen Romanen. Dabei gleitet Máni aber nie ins Esoterische ab. Für alle seine Romane hat er gründlich recherchiert. Es ist diese Mischung aus akribischer Puzzlearbeit, mit der er Details schildert, verbunden mit einem Talent, Brutalität nüchtern, fast emotionslos zu schildern, ohne ins Reißerische abzugleiten, die seinen Stil prägen. So entstehen Bücher mit harter Klinge und dem Gefühl, unkontrollierbaren Kräften ausgesetzt zu sein, die Máni zu einem Erzähler machen, der ohne Tricks mit Handlung und Dialogen fesseln kann. »Wir waren bereit, das Böse all unsere Schwächen hinwegfegen zu lassen, auf dass nichts mehr unserer teuflischen Reife im Weg stehe.«

Wir alle wissen, dass es »Böses« gibt. Gibt es also eine Wesensheit, die das, was als »böse« benannt wird, substanziell in sich enthält?
Goethe hat diese Frage mit dem Mephisto im Faust zu seinem Thema gemacht. Je rationaler und vernünftiger die Welt betrachtet wird, desto stärker scheint der Teufel durch die Hintertür der menschlichen Seele wieder Eingang in die Menschen zu suchen.

Stefán Máni ist davon überzeugt, dass es das Böse gibt. Nicht als Teufel, Ahriman oder Satan. Máni vergleicht das Böse eher mit einem Virus in einem Computerprogramm. Das Programm sei der Code des Lebens, die Natur. Und der menschliche Geist ist ein Teil dieser Natur. »Das Böse hat kein Gesicht, bis es von einem Menschen Besitz ergreift; dann bekommt das Böse ein vorübergehendes Gesicht.« Mythen seien auch in unseren modernen und aufgeklärten Zeiten lebendig, auch wenn viele Menschen sich dessen nicht bewusst seien. Die alten Mythen beruhen auf Wissen, und für Máni gilt, »alle Mythen leben ewig«. Sie sind in unserer DNA und beeinflussen unser Leben jeden Tag. Abgrund ist wohl der Roman, in dem Máni »das Böse«, die alten Mythen und parallele Welten am stärksten mit der Handlung einer spannenden Kriminalgeschichte verknüpft. Träume, Erlebnisse von vor zehn Jahren verbinden sich mit dem Schicksal einer jungen Frau und der Hauptfigur des Romans, Sölvi, auf mystische Weise. Dabei ist Máni mit seinem »alten Wissen« durchaus auf der Höhe der Zeit. Parallelwelten machen schließlich auch in der Quantenphysik durchaus Sinn. Das gilt auch für Mánis Romane; da wirkt nichts konstruiert. Die Handlung, auch die rauen, die gewaltsprühenden, bisweilen aber auch humorvollen Dialoge verhindern ein Abgleiten ins allzu Mystische. Doch das Virus des Bösen lauert überall. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der wir vom Bösen reden, als lauere es an einem Ort und übe dort und von dort aus seine Macht aus, macht Mánis Kriminalromane so spannend. Er schürft tief in den Seelen seiner Charaktere. Das Böse existiert für ihn nicht als Teufel oder Entität, sondern ist seiner Meinung nach eine Kraft. Das Böse habe kein Gesicht, bis es von einem Menschen Besitz ergreife. »Dann bekommt das Böse ein vorübergehendes Gesicht.«

Auch Sölvi ist alles andere als perfekt, selbst wenn ihn seine rauen Cousins als schwach denunzieren und als »Engelsgesicht« verspotten. Er ist schwach, aber er ist mutig. Er ist ein Einzelgänger, aber er ist sozial. Er hat den Mut, für die Wahrheit zu kämpfen. Je weniger Gott dem modernen Menschen hilft, inmitten seiner Schrecken zu leben, umso nötiger brauchen wir ein anderes Netz von Referenzen. Im modernen Kriminalroman ist es die Gesellschaft, gerade im skandinavischen Krimi sind es die gesellschaftlichen Umstände, die Verbrechen hervorbringen. Solange also kapitalistische, bürgerliche Werte als gesellschaftliche Basis bestehen bleiben, solange wird sich in diesem Denken das Tor der Hoffnungen zu einer besseren Welt nicht öffnen. Es ist die Grundidee der marxistischen Klassiker, wonach Verbrechen Ausfluss des Klassenkampfes ist. Bei vielen »fortschrittlichen« Autoren hat diese Idee bis heute überlebt.

Auch Máni sieht die gesellschaftlichen Strukturen und die Gründe, wie und warum sie Menschen in Kriminalität drängen können. Die Gier der Finanzindustrie, die dunklen Seiten einer Allianz aus Politik und Kapital, das ist ein Rahmen, in dem auch seine Kriminalromane spielen. Nur: das Tor der Hoffnung durch eine andere Gesellschaft, das sieht er nicht. Wie sollte diese Gesellschaft aussehen? Da kommt seine Überzeugung ins Spiel, dass das Böse Teil der Natur des Menschen ist, dass es in allen Menschen schlummert. Das Böse ist nie tot, es träumt bestenfalls. »Es ist immer da, aber manchmal schläft es«, sagt Máni. Der Autor bricht damit die
pseudorationalen Diskurse auf, die nur noch nach den Kategorien »gut« und »böse« geführt werden. Máni ist damit nah an den Gedanken des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der als erster den Schritt wagte, das Böse als etwas Positives aufzufassen. Das Böse – oder das, was von der Gesellschaft als »böse« geächtet wird – ist Teil der Freiheit des Menschen. Das Dunkle gehört zum Leben, ohne es gäbe es keine Realität der Kreatur. So ragt – egal in welcher Gesellschaftsform – die Gangsterhöhle immer wieder in die Welt der Gutgesinnten herein.

Es ist eine Provokation in unseren Zeiten, das Böse als Teil des menschlichen Dramas der Freiheit zu sehen. Nach Schelling ist aber allein der Mensch in der Lage, das böse Prinzip gegen das gute zu kehren; genau das macht seine Freiheit aus. »Der Mensch ist in der ursprünglichen Schöpfung … ein unentschiedenes Wesen – (welches mythisch als ein diesem Leben vorausgegangener Zustand der Unschuld und anfänglichen Seligkeit dargestellt werden mag) –; und nur er selbst kann sich entscheiden«, schreibt Schelling in Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Krimiautor Máni beschreibt es mit seinen Worten: »Das Böse hat kein Gesicht, bis es von einem Menschen Besitz ergreift. Dann bekommt das Böse ein vorübergehendes Gesicht.« Das ist die Weltsicht eines Skeptikers; in dessen Werk die traditionellen Mythen, die im abgelegenen Norden oft noch stärker sind als in den anderen globalisierten Ländern Europas, unentrinnbar zum Menschen und seinem Leben gehören. Was in der Vergangenheit geschehen ist, kann und wird wieder geschehen, ist sich Máni sicher: Die Wahrheit ist da draußen, war immer da und wird immer da sein. In unseren modernen Zeiten fällt es schwer, sich darauf einzulassen. Im archaischen Griechenland, auch in der Welt der nordischen Sagen, hatte to kakon (das Schlechte, das Böse) dagegen noch nicht die moralische Bedeutung, wie sie erst mit dem Christentum in die Welt kam.

Gut und Böse sind für den isländischen Auto deswegen zwei Seiten derselben Medaille. Um das Grauen zu verstehen, muss der Mensch auch in der Lage sein, die Schönheit zu genießen. Auch bei Máni gibt es beides – sowohl Licht wie auch Dunkelheit.
In ABGRUND spielt am Ende Beethovens Mondscheinsonate eine wichtige Rolle. Passt das zu einem Noir? Zu einem Fan von Hard Rock und Heavy Metal? Máni sieht da keinen Widerspruch. Beethovens 5. Sinfonie sei wie Heavy Metal, sagt er. Es gibt eine starke Verbindung zwischen Heavy Metal und klassischer Musik, bei Beethoven, Bruckner – und Wagner nicht zu vergessen.

In Deutschland ist Máni bislang vor allem durch seinen Roman Das Schiff bekannt geworden, einen Krimi, in dem das Dämonische eine zentrale Rolle spielt, wo in der Enge des Schiffs die Mannschaft feststellt, dass die Hölle immer die anderen sind. In den USA hat sich Máni vor allem mit seiner Serie mit dem isländischen Ermittler Grimsson durchgesetzt – verglichen mit ABGRUND ein Schritt in Richtung Mainstream. Aber auch dieser Ermittler lebt in der Welt des »alten Wissens«, er ahnt das Böse, bevor es sichtbar wird. Er habe sich total in Grimsson verliebt, sagt Máni. »Ich habe ihn nicht wirklich erschaffen – er kam zu mir als eine Vision; eine Vision in Geist und Fleisch.« In seinen früheren Roman spielen Ermittler eher eine untergeordnete Rolle. In ABGRUND steht der Detektiv für die rationale Welt, für das Abwägende – Máni tastet sich mit ihm aber schon langsam an den Typus heran, den Grimsson später verkörpern wird. Zu Grimsson wie zum Noir gehörten auch das Böse, das Unerklärliche. »Seid ihr bereit für Stefán Máni?“, fragt der Autor. „Ich bin bereit für Deutschland.«