Bruchlinien

Ein Nachwort von Christian Koch
©Max Soklov/Adobe Stock

Frau ohne Ausweg ist chronologisch der zweite von fünf Romanen um Police Inspector Celcius Daly, die im Original zwischen 2012 und 2017 erschienen sind. Sie wirken heute extrem zeitlos, und das liegt vermutlich an den drei beherrschenden Themen, die wir immer wieder in Anthony J. Quinns Büchern finden und die er handwerklich exzellent mit den jeweiligen Plots verknüpft.
Zum einen sticht da die Grenze heraus. Sie bildet in Quinns Kriminalromanen das alles beherrschende Leitmotiv. Sie bietet, in Form der räumlichen Grenze zwischen Irland und Nordirland, genügend Raum für die Krimihandlung, wichtiger noch aber funktioniert sie als Symbol für die hohen Mauern und tiefen Gräben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen in Nordirland. Die republikanische Seite fordert mehrheitlich den Anschluss an Irland und die protestantische überwiegend die Beibehaltung des jetzigen Status als Landesteil vom Königreich Großbritannien. Die Grenze zwischen diesen beiden Blöcken und ihren politischen Ausrichtungen stellt sich auch heute noch als fast unüberwindbar dar.
Auch für die Romanfiguren haben Grenzen in Frau ohne Ausweg eine zentrale Bedeutung. Da ist zum einen die Hauptfigur Lena, die, zur Prostitution gezwungen, aus einem illegalen Bordell im Niemandsland des Grenzgebiets flieht und fortan verfolgt wird. Celcius Daly mag im Roman präsenter sein und auch häufiger auftauchen, Lena bestimmt aber zunehmend aus dem Hintergrund heraus die Handlung. Sie wandelt sich dabei, anfangs unbemerkt, von der Gejagten zur Jägerin und verschiebt so die erwarteten literarischen Grenzen.
Zum anderen spielen Grenzen und deren Überschreiten auch für Inspector Daly eine wichtige Rolle. Dass Polizisten Vorschriften übertreten, ist nichts Neues im Genre Kriminalroman. In dieser Dimension, und wie sich Daly quasi nur auf sein Bauchgefühl Lena betreffend verlässt, ist es vom Autor aber hier besonders hervorgehoben. Und Inspector Daly überschreitet auch private Grenzen, indem er sich, durch den Fall um Lena ausgelöst, ernsthaft auf seine eigene Situation einlässt und versucht, den Verlust seiner Frau Anna nach der Scheidung zu realisieren.
Seite 288: »Selbst wenn sie es vielleicht gar nicht bemerkt hatte, hatte auch er von ihrer Bekanntschaft profitiert. Nicht als Jäger war er ihrer Spur gefolgt, sondern als naiver liebeshungriger Mann auf der Suche nach Orientierung, nach einem Licht, das auch die verborgensten Tiefen seiner Gefühle ausleuchtete. Nur langsam hatte er begriffen, was sie für ihn bedeutete. Sie war das kleine bisschen Tod gewesen, dessen er bedurft hatte, um das Scheitern seiner Ehe anzuerkennen und seine eigenen Fehler zu akzeptieren, damit er sie auf den Grund eines dunklen Flusses sinken lassen konnte. Endlich machte er sich keine Illusionen mehr darüber, dass er die zerbrochene Beziehung zu Anna wieder kitten konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie diese Beziehung langsam unterging und verschwand.«

Aber nicht nur Gefühle vermag Anthony J. Quinn meisterlich darzustellen. Nach den Grenzen fällt das zweite wichtige Grundmotiv schnell ins Auge. Nämlich die Natur und ihre besondere Darstellung, um seinen Romanen Tiefe und Atmosphäre zu verleihen. Egal ob es um Lenas anfängliche Flucht, das Grenzgebiet, reihenweise seit der geplatzten Immobilienblase leerstehende Häuser oder auch Dalys Seelenzustand geht: Anthony J. Quinn verleiht mit seinem »kriminellen Nature Writing« jedem dieser Handlungsorte eine intensive und tiefe Bildhaftigkeit.
Seite 7: »Grenzland war ihr vertraut. In jenem, das hinter ihr lag, in den schneebedeckten Eichen- und Kiefernwäldern, die ihre Heimat vom Rest der Welt trennten, gab es Wölfe, Bären und vergrabene Landminen.

Während ihres erzwungenen Aufenthalts in einem verfallenden Cottage träumte sie von ihrem Land, bis die Schatten der Bäume von dort in das neue Grenzland fielen. In einem dunklen Winkel ihres Bewusstseins erschien ihr das vergessene Licht des Bauernhauses ihrer Großmutter am Fuß eines bewaldeten Bergs. Doch wenn sie die Augen aufschlug, sah sie nichts als eine gesprungene Fensterscheibe, die im Mondlicht glänzte, und die Gestalt eines weiteren Mannes, der seine Hose hochzog, sich das Hemd in den Bund stopfte und zur Tür hinauswankte.«

Dritter zentraler Punkt in Quinns Werk ist der Begriff Geschichte. Als Begriff für Vergangenes, aber auch als Bindeglied zwischen Menschen, deren jeweilige Historie beim Aufeinandertreffen und sich Begegnen eine neue, dann gemeinsame, Geschichte formt.
So spaziert der Plot geradezu durch die letzten Jahrzehnte und berührt dabei die Themen »Troubles«, »Karfreitagsabkommen«, »Immobiliencrash«, den heraufziehenden Brexit, bleibt zeitlich dabei aber komplett im Hier und Jetzt. Eben weil jede Figur eine Chronik hat und diese offengelegt und dann spinnennetzartig verknüpft werden. In dieser Perfektion erinnert Quinns Stil an die Hal-Challis-Romane von Garry Disher aus Australien.
Einiges an Spielraum bleibt dem Lesenden bei Quinns Romanen in puncto Fazit. Geben sie Hoffnung oder zeichnen sie eine eher düstere Zukunft Nordirlands? Quinn selber beschreibt es in einem Interview so:
»Die Herausforderung für Nordirland besteht darin, wie man ehemalige Terroristen, politische Aktivisten, Freiheitskämpfer und sektiererische Unruhestifter in ein geregeltes und einfaches ziviles Leben integrieren kann. Sie verschwinden nicht einfach so in die Vorstadt.
Die Grenzgebiete in Border Angels stellen die Bruchlinie dar, die sich durch die nordirische Gesellschaft zieht, die Risse in der friedlichen, harmonischen neuen Gesellschaft, die sich das Karfreitagsabkommen ausgedacht hat. Der Preis, den wir alle zahlen müssen, ist dieses Ödland, in dem normale Werte auf den Kopf gestellt werden und in dem Kriminelle und Mörder scheinbar ungeschoren davonkommen. Rasche politische Veränderungen haben ehemalige Paramilitärs an die Macht getrieben, und dieser Hintergrund verleiht meinem Schreiben Spannung und Resonanz, insbesondere wenn sich Einzelpersonen in einen persönlichen Kampf zwischen Gut und Böse verwickeln.«

Anthony J. Quinn erwähnt vier nordirische Autoren, die ihn allesamt durch ihre Bücher beeinflusst haben. Colin Bateman, Brian McGilloway, Adrian McKinty und Stuart Neville. Von diesen vier las er die Romane und beschloss danach, seine eigenen Ideen aufs Papier zu bringen. Durchs Lesen ihrer Bücher erhielt er quasi die »Erlaubnis«, seine Erfahrungen und Einschätzungen in eigene Kriminalromane einzubringen. Sie haben (so Quinn) das alte nordirische Mantra »Was immer du auch sagst, sag nichts!« für ihn weggewischt und damit Türen für ihn aufgestoßen.
Zwei große Namen zählt Quinn als für ihn einflussreiche Schriftsteller*innen noch auf. Zum einen P. D. James, vor allem wegen ihrer Landschaftseinbindung und ihrer beeindruckenden Beschreibung von Trauer, und Graham Greene mit seinen subtilen Schattierungen zwischen Gut und Böse.
Um mehr über die Auswirkungen des Brexits auf Nordirland und die Grenze, aber auch das Leben dort heute gut 25 Jahre nach dem Friedensabkommen fernab von Sachbüchern zu erfahren, ist die Romanserie von Quinn bestens geeignet. Dem immer noch gültigen Motto »Schreib über das, was du kennst« folgend, ist Quinn ein famoser Chronist der Geschichte wie auch der Gegenwart.