Das Leben und der Tod, der Tod und das LEBEN!
Ein Nachwort von Ulrich Noller
Gott ist tot. Das wissen wir spätestens seit Friedrich Nietzsche. Er hatte ein langes Leben bis dahin. Eines, das von immenser Wertschätzung geprägt war, von Liebe und Bewunderung. Im Großen und Ganzen zumindest. Klar, es gab immer auch Zweifler und Skeptiker. Ungläubige. Zudem gaben ihm seine Schützlinge oft Anlass zur Sorge. Die Protagonist:innen, die er geschaffen hatte. Mit ihren Taten, aber auch mit ihren bohrenden Fragen. Gott musste sie loslassen, ihnen ihre eigene Freiheit gewähren. Deshalb ja sein Sterben.
Von Gottes Sterben, das sich letztlich auch über Jahrhunderte hinzog, gibt es viele Zeugnisse. Wir wissen nicht alles, aber sehr viel darüber. Was wir allerdings nicht wissen: Wie wohl der Moment war, in dem das Leben Gottes in den Tod überging. Wie viel Leben da war und wie viel Tod, wie viel Alles und wie viel Nichts. Was den Moment des Kipppunktes ausmachte. Was danach war; ob danach überhaupt was war. Antworten auf diese Fragen hat Gott nicht mehr gegeben, wie sollte er auch, er war ja tot.
Der Tod ist immer und überall, das ist ja keine Frage. Wer wüsste davon wahrer zu berichten als die drei Generationen der Skelf-Frauen von Doug Johnstone mit ihrem Beerdigungsinstitut samt Detektei. Sie sind nahe dran – zumindest an den Toten, die für ihre letzte Reise präpariert werden. Immer wieder aber auch ganz persönlich. Und natürlich auch am Leben, dank der Detektei; zudem haben sie ja auch noch ein eigenes Dasein mit allen Höhen und Tiefen inklusive diverser Nahtoderfahrungen. Der Tod und das Leben.
Zugleich sind diese Skelfs mit ihrem Wirken eine der großen Ausnahmen: Der Tod ist weit weggerückt von unserem Alltag. Er ist nurmehr ein ferner Teil der arbeitsteiligen Gesellschaft. Er dräut, irgendwo hinten am Firmament des Lebens, möge es lange währen, bis dahin lassen wir ihn dräuen und machen den Deckel drauf. Konzentrieren uns auf das Leben ohne Tod. Und wenn es so weit ist, dann gibt’s ja die Profis, die alles erledigen, so wie die Skelfs. Diese »Auslagerung« ist ein Prozess, der sich wie so vieles im Zuge der Erkenntnisse der Aufklärung entwickelt hat. Der also auch, erstaunlicherweise, mit dem Tod Gottes einhergeht.
Wie kann das überhaupt sein? Gott ist immerhin allmächtig. Davon gehen ja viele aus, die trotz allem weiterhin an ihn glauben. Die diversen gedanklichen Widersprüche und Dilemmata, die mit dieser Annahme einhergehen, konnten trotz höchst berufener Beiträger:innen zur Diskussion bislang noch nicht geklärt werden. Macht nichts, denn das hat immerhin den Vorteil, dass bis auf Weiteres alle möglichen Vorstellungen und Ideen weiter im Raum stehen können. Zum Beispiel auch der Gedanke, dass Gott sich trotz seines Todes in aller ihm eigenen Allmächtigkeit doch noch einmal unter die Menschen begibt, um da etwas zu korrigieren, was sich im Rahmen seines Sterbens nicht ganz optimal entwickelte: eben den merkwürdig widersprüchlichen Umgang mit dem Tod.
Dass Gott in diesem Fall als Krimiautor zurückgekehrt wäre, ist genauso gut oder schlecht vorstellbar wie jede andere Profession oder Legende, und es scheint auch deshalb nicht unplausibel, weil der alte Herr ja mit der Wirksamkeit von Büchern gute Erfahrungen gemacht hat. Dass diese Idee der Wirksamkeit etwas altmodisch anmutet, geschenkt, Gott ist halt nun mal auch nicht mehr der Jüngste. Und er hat bekanntlich schon sehr viele Höhen und Tiefen erlebt, um nicht zu sagen: alle. Wer weiß, was er weiß, die künftige Wirkung von Literatur betreffend.
Jedenfalls: Wäre Gott ein Krimiautor, so meine These, wäre er Doug Johnstone. Immer vorausgesetzt, dass es ihm um Leben und Tod, um Tod und LEBEN! ginge. Denn davon erzählt das Universum der Skelf-Romane vor allem anderen, wovon es ebenfalls sehr beredt erzählt: Vom Tod, der das Leben ist, vom Leben, das den Tod jederzeit birgt, ein Leben lang, bis zum Ende, eben bis zum Tod. Das Leben im Tod zu feiern, den Tod als integralen Bestandteil des Lebens zu nehmen, ihn nicht weiter auszublenden und zu verdrängen, sondern ihn vielmehr anzunehmen als das, was er ist: essenzieller, unleugbarer, notwendiger Teil des Ganzen. Der Tod – ist das Leben.
Selbstverständlich wäre eine allmächtige Gottespersönlichkeit heute nonbinär. Warum sie die Identität eines Mannes angenommen hat, das mag möglicherweise ebenfalls traditionsbedingt sein. Einen zentralen Fehler hat sie jedenfalls in der neuen Schöpfung der Skelf-Romane direkt grundlegend beseitigt: Die zentralen Akteure sind Frauen. Und was für tolle Charaktere das sind, in all ihren Facetten und Beziehungsdynamiken! Natürlich: Ein paar sehr okaye Männer gibt es schon auch, an ihrer Seite, Archie zum Beispiel und Thomas, das sind wichtige Nebenfiguren, aber eben Nebenfiguren. Die anderen Typen, Craig vor allem, dienen eher dem Echo aus dem anderen, dem alten Universum, ihre Funktion ist disruptiv. Das Böse, wenn man so will, etwas zugespitzt; für ein Krimi-Universum natürlich auch unverzichtbar.
Dreh- und Angelpunkt dieses Universums ist das Skelfsche Beerdigungsinstitut, das zugleich eine Detektei ist. Was ist das denn für eine Idee, wie kommt man darauf, was für eine krude Kombination – kann einem erstmal durch den Kopf gehen zu Beginn der Lektüre. Und wird ziemlich schnell eines Besseren belehrt: Genau diese Kombination mit all den Lebenden und den Toten, die dort ein- und ausgehen oder getragen werden, ermöglicht die Umsetzung des Planes, den Doug Johnstone mit seiner Schöpfung wohl verfolgt: eben den Tod im Leben und das Leben im Tod auszuleuchten, diese beiden Seinszustände möglichst nahe und auch spielerisch aneinander zu messen. Und wie er das Spielerische einfließen lässt, wie es über den Plot mit seinen Facetten, über die Charaktere und ihre Stimmungen, auch über die Orte in Edinburgh erzählerisch seine sanfte, zugleich doch bestimmte Energie mit einer ganz eigenen Musikalität entfaltet, das ist beeindruckend – ein Zeugnis der hohen Kunst des »leichten« Erzählens.
Möglicherweise ist es ja auch eine Art Umkehrung, die Doug Johnstone hier – zumindest für den Moment – erfolgreich versucht: Das Leben ist eines zum Tode hin, völlig klar, eine Tatsache, unvermeidbar. Aber wenn wir ihn, wie dieser Roman, umkreisen, berühren, erfahren, ihn in unserer Nähe akzeptieren können, verliert er möglicherweise einen Teil seines Schreckens, weil er eben nicht mehr am Firmament wartet, sondern immer nahebei ist, als Teil des Lebens. Und LEBEN!, das geht im Angesicht des Todes, die Skelfs liefern den Beweis.
Natürlich bleibt die eigene Endlichkeit eine Zumutung, die sich allem Verständnis letztlich entzieht. Das ist und bleibt der Nullpunkt, um den sich alles Kreisen verdichtet; man müsste vermutlich allmächtig sein, um diese Tatsache des Lebens wirklich ermessen zu können. Immerhin aber ist es doch beruhigend zu wissen, dass mit dem Ende der Existenz nicht alles vorbei sein muss: Wenn die Recherchen der Skelfs die vergangenen Leben der Toten erkunden, um ihnen gerecht zu werden. Und wenn sie die Gestorbenen so präparieren, dass sie noch einmal – fast – zu leben scheinen. Das sind die beeindruckendsten Szenen und Sequenzen des Buches; während aus dem Nebenraume ein Lachen erklingt und überhaupt das Leben weitergeht …
Also: Gott lebt. In der Kunst. Insbesondere in der Literatur. Es ist der Autor in seinem Universum. Und wenn er ein Schriftsteller wie Doug Johnstone ist, dann ist er ein gütiger Gott mit seiner Schöpfung. Er muss harte Entscheidungen treffen, klar. Aber er ist freundlich, empathisch und voller Verständnis. Ein Gott der Liebe. Er macht das Beste draus. Das Allerbeste. Vermutlich weiß er, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Also eines jenseits des Buchcovers. In unseren Gedanken und Gefühlen. Sonst würde er seinen Charakteren all das, all ihre Normalität, all ihr Leben und Lieben und Sterben niemals zumuten.