Im Geschirr der Schuld

Ein Nachwort von Carsten Germis
©Max Soklov/Adobe Stock

Kleine Brüder können richtige Nervensägen sein. Sie sind laut, sie machen unberechenbare Dinge. Und trotzdem haben sie als Nesthäkchen bei den Eltern oft Narrenfreiheit. So sehr sie auch nerven und streiten mögen, man liebt die Kleinen. So wie in Samuel W. Gaileys Roman »Die Schuld« die Protagonistin Alice, 15 Jahre alt, ihren vierjährigen Bruder Jason liebt. Hübsch, ehrgeizig, lebt sie behütet das typische Leben einer Teenagerin in einer Mittelschichtfamilie in den USA. Sie ist glücklich, eine ehrgeizige Schwimmerin. Bis eines Tages ein Schicksalsschlag ihr Leben aus der Bahn wirft. Das passiert überall in der Welt an jedem Tag in Millionen Familien immer wieder. Bei Alice aber passiert ein Unglück, eine Katastrophe. Die Frage brennt sich fest in ihr: Hätte sich das verhindern lassen? Der Ruf des Gewissens nagt. Es ist eine Selbstanklage, in der sich das Mädchen für schuldig erklärt.

Samuel W. Gailey hat mit »Die Schuld« einen Roman geschrieben, in dem er zeigt, wie der innere Dämon, das sich immer wieder meldende Gewissen einem Menschen das Leben zur Hölle machen. »Du solltest auf ihn aufpassen«. Diese Grenzsituation, diese Auseinandersetzung muss Alice alleine mit sich abmachen. Die Reaktionen der Eltern, alles im Alltag erinnert sie an diesen einen großen Fehler – der das Mädchen in Selbsthass und Verzweiflung treibt. Nichts wird besser. Selber fast noch ein Kind läuft sie fort von zuhause. Doch das Geschirr der Schuld hält Menschen gefangen, wohin sie
auch gehen, wie viel Zeit auch vergeht.

Mit diesem ersten großen Schicksalsschlag hat alles angefangen.Vor Schuld kann man nicht weglaufen. Das ist die Lektion, die Alice lernt. Denn »das, wovor du wegläufst, das wovor du eigentlich wegläufst, ist das wovor du nie wirst weglaufen können«, sagt ihr der einzige Freund, dem sie vertraut und bei dem sie Zuflucht sucht. Auch wenn sich Schuldbeladene als Verlierer fühlen, Gaileys Figuren sind stark. Das Leben auf der Straße macht misstrauisch, überall lauern Gefahren. Alice überlebt. »Jeder sollte für sich selber sorgen, fand sie.« Wir sehen zu, wie sie kämpft, wie sie sich abmüht, einen Weg zu finden, mit der Schuld zu leben.

Alice ist Trinkerin. Sie trinkt, um ihre Schuld, den einen großen Fehler zu vergessen, mit dem alles angefangen hat. Doch der Teufel Alkohol hat noch niemandem geholfen. Nach dem Kater ist alles wieder da. Und »es war nie gut, wenn sie sich an die Marke des Schnapses erinnerte, aber nicht an den Namen des Mannes, mit dem sie geschlafen hatte.«

Nach der Flucht vor ihren inneren Dämonen, die an keinem Ort und in keinem Job die ersehnte Erlösung gebracht hat, muss Alice von nun an vor äußeren Feinden fliehen. Neben dem Toten findet sie Drogen und eine Tasche voller Geld. Was tun? Das Richtige.
»Nur: seit wann tat sie das Richtige?« Der Drogenboss, Sinclair, und sein Schläger setzen sich auf ihre Fersen, eröffnen die Jagd.

Sucht ist in Gaileys Romanen immer wieder ein Thema. Der Leser hört im Roman aus den Dialogen den Klang der Versuchung, er sieht in der Körpersprache, den inneren Kampf einer Trinkerin beim Blick auf die Flasche Tequila mit eigenen Augen.

In den USA ist Gaileys Stil in den Feuilletons mit dem von John Steinbeck verglichen worden, den der Autor selbst auch als eines seiner großen Vorbilder nennt. Wo Steinbeck mit seinen Romanen Blicke in die Abgründe der amerikanischen Gesellschaft wirft, beleuchtet
Gailey die Abgründe im Privaten. Was geht in Menschen vor, die vor der Last auf ihren Schultern flüchten? Was ist, wenn sich die Waage beim Handeln zwischen dem, was man erhofft, und dem, was unvermeidlich ist, mit in Kauf nehmen muss, immer zur falschen Seite neigt? Gaileys Protagonisten sind fehlerhaft; aber sie verdienen Rettung und Erlösung.

Der Autor, der in einem Ort mit weniger als 400 Einwohnern im Nordosten Pennysylvanias aufgewachsen ist und heute mit seiner Familie auf den abgelegenen Orcas-Inseln nahe der kanadischen Grenze im Nordwesten der USA lebt, ist bei seinen Figuren, die – wie Alice – immer wieder aufstehen, nicht an der Schuld zerbrechen und gegen alle Widerstände weiter kämpfen. »Wenn es möglich wäre, würde sie wahrscheinlich gern in einem spießigen Leben aufwachen.« Das offenste Gespräch über ihre Dämonen führt Alice am Ende mit dem Drogenboss Sinclair, der ihr auf der Suche nach dem gestohlenen Geld durch vier Bundesstaaten gefolgt ist. Er ist der Antagonist, der seinen Schläger die Drecksarbeit machen lässt, und ohne sichtbare Gewissensbisse selbst bei brutaler Gewalt seine bildungsbürgerliche Herkunft heraushängen lässt. Wenn zum Beispiel ein Opfer ihm während der Folter entgegenhält: »Sie machen mir Angst« und Sinclair ihn mit Zitaten des englischen Physikers William Barrett darüber belehrt, dass das nicht stimme. »Was sie empfinden ist Furcht.« Doch wer kennt schon Barrett und den Unterschied zwischen Angst und Furcht?

Mit klassischen Ermittlerkrimis oder den hard boiled á la Chandler oder Hammett haben die Romane Gaileys nichts zu tun. Polizisten spielen bestenfalls Nebenrollen. Sie kommen und gehen, hinterlassen kaum Spuren. Dem Autor geht es um die Innenwelten, die Ängste und Dämonen des Lebens. Auch wenn Freunde helfen, ihre Erlösung müssen die Figuren aus eigener Kraft finden und lernen mit der Schuld zu leben.