Bewegung und Gefühl

Ein Nachwort von Thekla Dannenberg

 

©Max Soklov / Adobe Stock

Franzosen sagt man gern nach, dass sie sich in großer Rivalität zu Amerikanern sehen: Die Französische Revolution steht dann gegen die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Exception culturelle gegen die Kulturindustrie, der Kommissar im Staatsdienst gegen den Privatdetektiv, der Rohmilchkäse gegen Junkfood. Ein bisschen stimmt das natürlich, aber auch das Gegenteil ist richtig: Niemand kann die amerikanische Kultur so verehren wie die Franzosen. Niemand bewunderte Hollywood so wie die Nouvelle Vague, niemand in Europa verehrt den amerikanischen Hardcore-Autor James Ellroy so unerschütterlich wie die Wirtschaftsprofessorin Dominique Manotti. Auch Nicolas Zeimets Roman Rückkehr nach Duncan’s Creek ist ein Werk der Verehrung, eine Hommage an die amerikanische Literatur, das Kino und die Landschaft. Wie ein Soundtrack zieht sich Musik durch die Geschichte, der Pop der achtziger Jahre, der Rock der Neunziger. Immer wieder erweist Zeimet literarischen Vorbildern seine Reverenz, John Irving oder Jack Kerouac. Vorangestellt ist dem Roman ein Zitat der amerikanischen Schriftstellerin Joyce Carol Oates, das sich leitmotivisch durch die Geschichte zieht: »Ich weiß, wenn du dich nicht um deine Vergangenheit kümmerst, kümmert sie sich eines Tages um dich.«

Das schönste Zitat entstammt jedoch dem Gedicht »Der unbegangene Weg« des amerikanischen Dichters Robert Frost von 1916. Darin gelangt ein Mann im Wald an eine Weggabelung und muss sich entscheiden, welche Richtung er einschlagen will. Er nimmt den Weg durch das weiche und saftige Moos,und bedauert sofort, dass er den anderen nie kennengelernt haben wird. Am Ende schließt das Gedicht mit der berühmten Zeile, die der Entscheidung im Nachhinein Sinn verleiht: »Zwei Wege boten sich mir dar, / Ich nahm den Weg, der weniger begangen war, / und das veränderte mein Leben.«

In Nicolas Zeimets melancholischem Noir Rückkehr nach Duncan’s Creek nimmt ein Mann den Weg zurück, dorthin, wo sich alles entschieden hat, in den Ort seiner Kindheit und seiner Jugend. Alles in diesem Roman ist Bewegung und Gefühl, in sich steigernder Intensität. Es ist eine Bewegung durch Raum und Zeit, von Kalifornien zurück nach Utah, vom Heute ins Gestern, durch das gelebte Leben unaufhaltsam zurück in die Jugend, zu Freundschaft, Geheimnis und Tod. In Duncan’s Creek spielte auch schon Zeimets Roman Seuls les vautours, man muss es sich ähnlich wie David Lynchs Twin Peaks als einen Ort vorstellen, der bei aller Gewalt und Hässlichkeit, die in ihm steckt und die er hervorbringt, nichts von seinem Sehnsuchtscharakter verliert. Die Teufelsschlucht ist ein beliebter Ort.

Es ist die Geschichte des Ich-Erzählers Jake Dickinson, der in San Francisco sein Glück als Schriftsteller versucht. Sein erster Roman war ein großer Erfolg, aber natürlich nicht der zweite: »Zu viele Längen, zu philosophisch, zu wenig Rhythmus«, beschied ihm der Verleger. Jake verdient sein Geld daher in einer Buchhandlung, bis ihn eines Tages ein Anruf ereilt, der ihn aus seinem Leben reißt. Sam Baldwin, seine alte Freundin aus Jugendzeiten, meldet sich: »Ich brauche dich. Kannst du kommen?« Jake mietet sich ein Auto und macht sich auf ins Alta Cinega Motel in West Hollywood, wo ihn Sam nur noch um eines bitten kann: »Bring mich nach Hause.«

Mit wenigen Strichen und durchaus viel Gefühl für Rhythmus, wie man sagen muss, gestaltet Zeimet Jakes Reise zurück nach Duncan’s Creek, über die legendäre Interstate 15, zurück an den Ausgangspunkt ihrer beiden Leben. Man weiß sofort, wo man ist: Zur Musik von Rufus Wainwright, R.E.M. und Marianne Faithfull führt die Fahrt quer durch den amerikanischen Westen, von Kalifornien über Arizona und Nevada nach Utah, durch eine ikonografisch gewordene Landschaft: die Mojave-Wüste, das Hidden Valley, der Hoover-Damm, Las Vegas, in Kingman kreuzt die Route 66. Die Landschaft zieht an einem vorbei wie in einem Roadmovie. Trockene Hitze bläst einem ins Gesicht.

Dazwischen schaltet Zeimet die Kapitel, in denen er die Geschichte der jugendlichen Freundschaft von Jake und Sam und Ben, dem dritten im Bunde, erzählt. Eine klassische Konstellation. Kapitelweise wechseln sich das Heute und das Gestern ab, das gelebte Leben des Ich-Erzählers und die großen Erwartungen dreier junger Menschen.

Die Zeit rinnt langsam dahin, 4. Juli, Halloween und Thanksgiving sind die großen Ereignisse einer amerikanischen Jugend in den 1980er-Jahren. Im Radio laufen Boy George, UB40 und Roxette, aber immerhin auch Prince und die Pointer Sisters. Im Kino läuft Horror: Nightmare on Elm Street, Der Exorzist und Carrie beherrschen die Fantasien der Jugendlichen. Dennoch evoziert Zeimet diese Zeit nicht in ihren Pathologien, sondern wie auf Samt gebettet. Auch in diesen Achtzigern hatte die Jugend ihren Zauber.

Sam ist das charismatische Kraftzentrum dieser Freundschaft, voller Energie, faszinierend, aber auch furchterregend, aufbrausend, manipulativ, hart gegen sich und gegen andere. Man weiß nie, woran man bei ihr ist. Der scheue, sensible Jake ist ihr treu ergeben, aber um Vernunft bemüht, Ben bis über beide Ohren in sie verliebt. Allein schon sie anzusehen tut gut, aber auch weh. Was einen als junger Mensch verletzt, ahnt Jake, sind nicht unbedingt die Schläge selbst, sondern die Tatsache, dass man sie nicht einzustecken versteht. Sam ist die Tochter eines gewalttätigen Mannes, aufgewachsen ohne Zuneigung und ohne Liebe, nur der kleinen Schwester verbunden. »Ich werde ihr nicht wehtun« tönt der brutale Vater, »ich werde ihr nur die Fresse polieren.« Phil Baldwin ist ein Monster von einem Vater. Er säuft, verprügelt seine Tochter, missbraucht sie. »Warum tust du das, Papa?« »Weil ich dich lieb habe.«

Jake wusste von Anfang an um die Dunkelheit, die in diesem Mädchen herrscht: »Ich hatte immer den Tod in Sam gespürt. Drogen, Sucht, Alkohol, Selbstmord, Mord.« Sam selbst fragt sich, wie das Glück im Leben verteilt wird. Bekommt jeder den gleichen Anteil? Oder sind die Karten von vornherein verdammt ungerecht verteilt? »Es war das Leitmotiv unserer Kindheit: gemeinsame Momente, voller Hoffnungen und Zauber. Und auf einmal stürzt alles zusammen. Drama, Horror, Düsternis.«

Der Schrecken kulminiert am Halloween-Abend des Jahres 1988. Doch es ist nicht aufregender Grusel, der über Sam, Jake und Ben hereinbricht, nicht Süßes oder Saures, Trick or Treat, Farce ou Friandises. Es ist eine furchtbare Realität, die diese Jugendlichen heimsucht und in die Kürbisse, Prinzessin-Lea-Kostüme und Freddy Kruegers Handschuh auf einmal wie Kinderspielzeug hineinragen: grotesk, deplatziert, lächerlich. Sie sind zu jung, um mit dem Furchtbaren fertigzuwerden, zu jung, um sich selbst zu helfen, zu jung, um es unbeschadet zu überstehen.

Der Horror bei Zeimet hat nichts Übernatürliches. Es ist außergewöhnlicher, aber ganz realer Schrecken, der in die Welt dieser drei Jugendlichen hineinbricht. Wie in den Romanen von Stephen King liegt hier das Entsetzliche nicht allein in dem, was der Horrorclown anrichtet, sondern in dem was er uns selbst tun lässt. Wozu er uns treibt. Was wir uns selbst antun. Im guten Horror manifestieren sich kollektive Ängste, aber auch die Furcht vor uns selbst.

Der 1977 geborene Zeimet gehört erklärtermaßen zu den Verehrern von Stephen King, der so geschickt die Elemente verschiedener Genres miteinander verschneiden kann, der das Wirkliche und das Unwirkliche so kunstvoll übereinanderlegt. Der Meister des amerikanischen Horrors hat nicht nur Zeimets Schreiben geprägt, sondern auch sein Bild von der amerikanischen Realität: »Ich halte ihn heute noch für den Schriftsteller mit dem schärfsten Blick auf die Vereinigten Staaten«, sagt Zeimet. Und natürlich kann man auch handwerklich viel von King lernen. Sein Buch Das Leben und das Schreiben ersetzt einen ganzen CreativeWriting-Kurs. King trichtert einem darin nicht nur ein, wie viel Disziplin und Arbeit an sich selbst das Schreiben erfordert, wie viel Talent und wie viel Praxis, sondern auch, wie es effektvoll und stilsicher geht: Seine Ratschläge sind goldene Regeln geworden: »Kill your darlings!«, mahnt King immer wieder. Schreib unprätenziös. Vermeide Verzierungen: »Der Weg zur Hölle ist mit Adverbien gepflastert.« Hübsch ist auch sein Vergleich von Adjektiven mit Löwenzahn: Einzeln ganz hübsch, aber wenn man ihn nicht sofort ausrupft, hat man ein paar Tage später die Wiese voll und erkennt in ihm das Unkraut.

Zeimet, Autor und Übersetzer zugleich, beherrscht die Regeln des guten Stils aus dem Effeff. Er hat gerade Roger Scrutons Fools, Frauds and Firebrands ins Französische übersetzt, die große Streitschrift des britischen Konservativen gegen die moderne Linke. Zeimet schreibt in einer ebenso fließenden Prosa. Er ist durch und durch Ästhet: An einer Stelle lässt er Jake bekennen: »Nostalgie ist wohltuend, wenn man nicht zu ihrem Sklaven wird, und ich begrüße sie wie den Besuch einer alten Freundin.« Zeimet versteht es, Stimmungen und Landschaften auszumalen, ohne die Bewegung ins Stoppen geraten zu lassen.

Für Rückkehr nach Duncan’s Creek wurde Zeimet 2018 mit dem Prix Dora Suarez ausgezeichnet, sozusagen der Ritterschlag von den Freunden des französischen Noir. Der Preis aus Lyon ist nach Derek Raymonds berüchtigtem Roman Ich war Dora Suarez benannt, einem Meilenstein der allerschwärzesten Literatur. Raymonds Finsternis liegt Zeimet völlig fern, aber wie Dora Suarez muss im Grunde auch Sam Baldwin sterben, weil sie »schön, arm und krank und auf unsere Barmherzigkeit angewiesen war, und wir keine zeigten«, wie es bei Raymond heißt. Aber mehr noch als dieses Motiv gibt die unaufhaltsame Dynamik Zeimets Roman die Noirness: Unbarmherzig wie in der klassischen Tragödie läuft alle Bewegung auf den Tod zu. Sam Baldwin hatte keine Wahl. Von Anfang an war klar, dass sie in Skid Row enden würde, Endstation all derer, die das Leben aus der Bahn geworfen hat. Sie konnte sich nicht einmal aussuchen, welchen Weg dorthin sie nehmen sollte. Sie hatte nicht die Spur einer Chance.

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