Nichts ist, wie es scheint
Ein Nachwort von Carsten Germis
»Nichts ist, wie es scheint.« Für Verschwörungstheoretiker in aller Welt ist das der oberste Glaubenssatz. Wo andere Zufall und Chaos sehen, wittern sie hinter dem, was passiert, einen perfiden Plan. Wenn alles geplant ist, dann muss es natürlich auch einen Menschen oder eine Gruppe geben, die das alles plant. Was im Deutschen als Verschwörungstheorie bezeichnet wird, nennen die Amerikaner »conspirancy theory«, – abgeleitet vom lateinischen Verb »conspirare«, was auch zusammenwirken bedeutet. Eine Verschwörung kann also nie das Werk eines Einzelnen sein, immer müssen sich kleinere oder größere Gruppen von Menschen darauf einigen, ein gemeinsames Ziel zu erreichen und dabei alle Spuren zu verwischen, die zu ihnen führen. Frank Yakabuski, genannt Yak, der robuste und kantige kanadische Polizist polnischer Abstammung, ist sicher kein typischer Verschwörungstheoretiker. Im Gegenteil. Aber auch er glaubt nicht an Zufälle. Nicht nur Verschwörungstheoretiker, auch Kriminalisten suchen meistens nach einem Zusammenhang zwischen scheinbar zufälligen Ereignissen. Polizisten wie Yak fühlen sich nicht richtig wohl, wenn sie die Welt um sich herum nicht verstehen. In Cape Diamond, Ron Corbetts zweiten Fall mit Frank Yakubuski bei der Springfield Regional Police am kanadischen Polarkreis, passt für den Ermittler nichts richtig zusammen. Nichts ist wie es scheint, auch wenn auf den ersten Blick alles ganz eindeutig zu sein scheint: Zwei rivalisierende Verbrecherbanden liefern sich einen brutalen Krieg, die Stadt steht kurz davor, die Armee zu rufen, um wieder Ordnung zu schaffen.
Auf der einen Seite stehen die Shiner, eine irische Bande, die in Springfield seit den Zeiten, als im Norden Kanadas die ersten Baumfäller und Pelzjäger das Land ausbeuteten, aktiv sind und die Region bis heute als ihr Revier betrachten. Auf der anderen die Traveller, die stolz auf eine genauso lange Tradition von mehr als 200 Jahren zurückblicken. Als »Fahrendes Volk« sind auch sie einst entlang den Pelzrouten hoch in den Norden gezogen und bis heute schmuggeln sie wie die Iren und betreiben Bordelle. Verachtet von den Stützen der Gesellschaft, leben die meisten von ihnen in einer Sozialsiedlung am Rande der Stadt. Berichte über Konflikte zwischen beiden Gruppen gehören seit Jahrhunderten zu den Mythen der Region.
Mythen und Geschichten aus den dunklen Zeiten dieses kargen und kalten Landstrichs verwebt Corbett geschickt mit einem Plot, in dem sich die Gewalt bis hin zum drohenden Bandenkrieg zu steigern scheint. Die Atmosphäre in der ganzen Stadt fiebert, angeheizt durch fast frühlingshafte Temperaturen, wo doch alle auf den Einbruch des Winters in dieser nordischen und derben Gegend warten. In Corbetts Kriminalromanen spielt die raue Natur dieser unwirtlichen Grenzregion Kanadas eine zentrale Rolle. Yak, der als Infanteriesoldat im Bosnienkrieg eingesetzt war, passt in dieses abweisende Umfeld. Er hat gelernt, dass das Leben ein dauernder Kampf auf Leben und Tod ist. Für Yak kommt es darauf an, in diesem Kampf gegen die Unterwelt und das Böse der Schlauere zu sein. Auch deswegen gehört er zu denen, die lieber handeln und mal drauflosstürmen; und mit den neuen Typen von Vorgesetzten, die lieber abwarten und erst einmal analysieren, nicht viel anfangen können. Yak weiß, dass Menschen den Menschen wieder das Übelste antun – wenn sie es können und weil sie es können.
Cape Diamond ist wie schon sein Vorgänger Preisgegeben ein wirklich tiefschwarzer Noir: Es ist ein harter Roman, gewalttätig, erzählt in nüchterner, fast kalter Sprache und ganz ohne den zur Belehrung erhobenen Zeigefinger, auf den viele zeitgenössische Autoren nicht mehr zu verzichten zu können glauben. Wer als Soldat im Bürgerkrieg auf dem Balkan eingesetzt war, als Undercover-Agent die organisierte Clan-Kriminalität bekämpft hat, verliert den Glauben, das grundsätzlich Gute im Menschen und eine Welt, die vorgibt, ihre Probleme im Stuhlkreis lösen zu können, während es an allen Ecken und Enden brennt. Bei seinen Ermittlungen häufen sich die Zufälle.
Und dann macht sich ausgerechnet an dem Tag, an dem der Bandenkrieg in Springfield beginnt, auch noch ein Killer vom fernen Mexiko aus auf den Weg in die Stadt und markiert ihn mit einer Spur des Todes. Nichts ist, wie es scheint. Im klassischen Rätselkrimi ist das nur ein Spiel. Doch in diesem düsteren kanadischen Noir ist alles brutaler, ehrlicher, wahrer!