Hinwegsehen

Ein Nachwort von Sonja Hartl
©Max Soklov/Adobe Stock

Im Oktober 2023 fand einer der aufsehenerregendsten Fälle sexualisierter Gewalt im Profi-Sport ein vorläufiges Ende: Trevor Bauer – vormals Pitcher der Los Angeles Dodgers – hat sich mit der Frau aus San Diego geeinigt, die ihm im Juni 2021 vorgeworfen hatte, sie bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, wiederholt geschlagen und ohne ihre Zustimmung Analverkehr mit ihr gehabt zu haben. Die Einigung legte ihre Klage und seine Gegenklage bei – ohne Zahlung von Geld und ohne dass eine der beiden Parteien ein Fehlverhalten zugegeben hat.

Sie ist nicht die einzige Frau, die ihm sexualisierte Gewalt vorgeworfen hat. Eine Frau aus Arizona hat in einem Verfahren angegeben, dass er ihr ein Messer an den Hals gehalten und solange gewürgt habe, bis sie ohnmächtig geworden sei. Dann habe er sie vergewaltigt, wovon sie schwanger geworden sei. Zwei weitere Frauen werfen ihm ebenfalls sexuelle Übergriffe vor.

Trevor Bauer hat sämtliche Vorwürfe bestritten. Er wurde weder verhaftet noch angeklagt. Die Beweise reichten nicht aus. In Fällen sexualisierter Gewalt steht meist Aussage gegen Aussage, Zweifel sind – wie zuletzt Suzie Millers Theaterstück und Roman »Prima Facie« gezeigt hat – schnell gesät: Die Aussagen traumatisierter Opfer sind widersprüchlich, Beweislagen nicht eindeutig, gerade wenn Täter und Opfer vorher eine Beziehung hatten.

Bei den Vorwürfen gegen Trevor Bauer kommt hinzu: Er ist ein sehr berühmter Sportler, gilt als einer der besten Pitcher der Welt. Von Anfang an sind Bauer und sein Anwaltsteam aggressiv gegen die Vorwürfe vorgegangen: Sie haben Medien verklagt, die ihrer Einschätzung nach falsch über die Vorwürfe berichtet haben. Soziale Medien waren und sind voll mit Meinungen, dass das Opfer lediglich auf Geld und Ruhm aus sei. Das ist ein gängiger Mechanismus in Fällen sexualisierter Gewalt: Anstatt des Täters wird das Opfer beschämt. Ist der potentielle Täter berühmt und bewundert, sind zudem viele Menschen eher bereit zu glauben, dass eine Frau sich öffentlich demütigen und beschimpfen lässt als dass ein bewunderter Mann möglicherweise eine Straftat begangen hat. Auch deshalb kommen viele Vorfälle gar nicht oder – wie im Fall Harvey Weinstein – mit Jahrzehnten Verspätung ans Licht.

In der Major League Baseball (MLB) gibt es jedoch ergänzend zu einer strafrechtlichen Untersuchung Möglichkeiten, auf solche Vorwürfe zu reagieren. Seit 2015 sieht eine »policy« hinsichtlich »domestic violence, sexual assault und child abuse« vor, dass der Commissioner entscheiden kann, einen Spieler zu suspendieren, bis es zu einem Urteil oder einem Abschluss eines Strafverfahrens kommt. Die Richtlinie sieht keine Mindest- oder Höchststrafen vor.

Nachdem die Vorwürfe gegen Bauer bekannt wurden, wurde er für 324 Spiele – das entspricht ungefähr zwei Saisons – gesperrt. Er legte dagegen bei einem unabhängigen Schiedsgericht Berufung ein, die Sperre wurde auf 194 Spiele reduziert. Die Los Angeles Dodgers haben ihn Anfang Januar 2023 entlassen, obwohl sein Dreijahresvertrag noch lief. Er spielt derzeit in Japan, hofft aber auf eine Rückkehr in die MLB.

Diese Hoffnung ist unberechtigt, denn es gibt in der MLB regelmäßig Vorfälle, die unter diese Richtlinie fallen und für die Spieler wenig Konsequenzen abgesehen von der Sperre haben. Danach spielen sie weiter. Denn alleine die Notwendigkeit einer solchen Richtlinie verweist schon auf das Ausmaß des Problems – sie ändert aber nichts an vergangenen Fällen: Obwohl es gegen den ehemaligen Spieler Omar Vizquel mehrere Vorwürfe von Misshandlung und sexualisierter Gewalt gibt, wird er weiterhin als ein Kandidat für die Baseball Hall of Fame gehandelt.

Die Richtlinie ist dennoch ein guter Anfang, sie sorgt dafür, dass über diese Fälle überhaupt gesprochen wird. Anders als beispielsweise in Deutschland. Eine Recherche der Journalismusplattform correctiv.org und der Süddeutschen Zeitung hat 2022 gezeigt, dass häusliche Gewalt bei Profifußballern vorkommt, sich Vereine und Verbände aber nicht damit befassen wollen. Auch andere Profisportler, denen häusliche und/oder sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird, nehmen davon kaum Schaden – sofern diese Fälle überhaupt öffentlich werden. Oft sorgt schon vorab ein Beraterteam dafür, dass die betroffenen Frauen schweigen. Die Realität ist: Erfolgreiche Sportler kommen mit vielen Fehlverhalten durch. Um die Stimmung nicht zu verderben, wird über die Opfer hinweggesehen.

Dieses Hinwegsehen beginnt aber nicht in den höheren Ligen, es ist von Anfang an Teil des Sports. Davon erzählt John Galligan in »Bad Axe County«.

Den Mittleren Westen stellen wir uns immer flach vor, tatsächlich aber gibt es im fiktiven Bad Axe County im ländlichen Südwesten von Wisconsin Hügel und »Coulees« – eine Reihe schmaler Bergrücken mit steil abfallenden Tälern. Dort kann ein Regenfall seichte Bäche in Sturzfluten verwandeln – wie zu Beginn des Buchs deutlich wird: Ein Sturm zieht auf. Der Regen wird Straßen unterspülen, Flüsse werden über die Ufer treten, Hänge abstürzen – und sobald das Wasser gefriert, wird alles mit einer spiegelglatten Eisschicht überzogen.

Dieses Wetter setzt die Stimmung für die nachfolgenden Ereignisse in diesem Landstrich, der geprägt ist von Familienbetrieben am Rand des Bankrotts, Landwirtschaft mit Milchvieh und Käseherstellung. Unterhaltungsmöglichkeiten gibt es kaum – außer Sport. In Erin Flanagans »Dunkelheit« trifft sich die Gemeinde in Nebraska bei den freitäglichen Footballspielen, in »Bad Axe County« bevorzugt man Baseball. »Baseball ist im ländlichen Wisconsin immer noch eine große Sache«, erzählt John Galligan im Interview. »Sport ist wichtig für den sozialen Zusammenhalt und die Identität dieser ländlichen Gemeinden.«

Rattlers heißt das örtliche Baseball-Team, die drei zentralen Charaktere und der Plot sind mit ihm verbunden: Angus Beaver hat für die Rattlers gespielt, dann den Sprung in die Minor League – eine untere Profi-Liga – geschafft. Als er hört, dass der alte Sheriff gestorben ist, verlässt er das Frühjahrstraining, um in seine Heimat zurückzukehren. Interim-Sheriff Heidi Kick kommt aus einem anderen County, dessen Mannschaft stets gegen die Rattlers verloren hat. Aber ihr Ehemann Harley ist eine örtliche Baseball-Legende, er hat für die Rattlers gepitcht. Schon bald hat sie besonderes Interesse an einem Spiel vom 12. August 2012. An dieses Spiel erinnert sich auch die 16-jährige Pepper Greengrass, obwohl sie aus einem anderen County kommt und es fünf Jahre her ist. Damals schlug ihr Bruder sechs Home Runs gegen die Rattlers – eine Sensation! Das war bevor ihr Stiefvater sie regelmäßig vergewaltigt hat und sie aus den Wisconsin Dells weggelaufen ist.

Pepper, Angus und Heidi wissen eins: Bist du in einer Kleinstadt gut in einem Sport, bist du etwas Besonderes – und nahezu unantastbar.

Für wenige ist der Sport ein Weg aus der Kleinstadt, auf ein College, vielleicht sogar in eine Profiliga. Aber Sport ist mehr als eine Karriereoption. Sport bedeutet Teilhabe. Kinder werden Teil einer Mannschaft – und oftmals einer sehr männlichen Vereinswelt, in der Frauenfeindlichkeit selbstverständlich dazugehört.

Sie äußert sich beiläufig in Kommentaren, Witzen, Anzüglichkeiten. Und weniger beiläufig in Beschimpfungen, Beschämungen, Begrabschen und Vergewaltigungen. Wer in einem solchen Umfeld aufwächst, macht oftmals mit – denn der Drang, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist meist größer als das Unbehagen. Nicht bei allen. Heidi Kicks Deputy Olaf Yttri hat aufgehört mit dem Sport: »Mein erster Football-Coach hat uns ständig Mädchen genannt – Ladys, Ballerinas, Schönheitsköniginnen, Prinzessinnen. In der Little League nannte uns der Coach dann Muschis und Fotzen. Schließlich habe ich meine Mom gefragt, warum. Sie sagte: ›Weil Frauen ekelhaft sind, nicht wahr? Sie sind nur Fleisch. Ist das nicht Teil des Sports?‹ Und sie hatte recht. Nicht für jeden Kerl. Vielleicht sind sogar die meisten Jungs beim Sport eigentlich gar nicht so. Aber es ist eine Art Gruppending, und in jeder Mannschaft sind immer gerade genug Typen dieser Sorte, weswegen ich lieber jagen und angeln gehe.«

Dieses »Gruppending«, dieser »locker room talk«, mit dem ein US-Präsident seinen Sexismus verharmloste, meint nichts anderes als eine Atmosphäre, in der sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung sind. Sie sind die Regel, nicht die Ausnahme. Das Erschreckende: Fast alle wissen es. Niemand sagt etwas. Sogar im Grunde gute junge Männer wie Angus oder Heidis Ehemann Harley schweigen. Oder sie ziehen sich wie Olaf Yttri aus dem System zurück. Aber mit ihrem Schweigen tragen sie dazu bei, dass es erhalten bleibt.

Das betrifft nicht nur Männer, auch Frauen wie Heidi Kicks Nachtschicht-Dispatcherin Denise Halverson. Sie weiß genau, was in der Feierhöhle der Rattlers am Rush Creek vor sich geht, sie hat daran teilgenommen. »Ein Besuch in der Höhle, eine Klapperschlange namens Buster Hymen Johnson, nackte Brüste, ein Foto, und dann war man ein Höhlenmädchen, womit man offensichtlich das Recht erwarb, exklusiv missbraucht zu werden.« Denn Teenagerinnen wollen auch dazugehören.

In so einer Atmosphäre werden Frauen zu Objekten, die man benutzt, besitzt und wegwirft – fast wie ein Baseball, dessen Nähte geplatzt sind. Diese Denkmuster zeigen sich in diesem Kriminalroman auf verschiedenste Weise. Sie sorgen dafür, dass die örtliche Polizei den Tod von Heidi Kicks Eltern als erweiterten Selbstmord bezeichnet – noch so ein patriarchaler Ausdruck, der verschleiert, dass er eigentlich meint, ein Mann hat erst seine Frau ermordet und dann sich selbst getötet. In diesem Fall ist sogar der Tathergang als Mord-Selbstmord falsch wiedergegeben, es war ein Doppelmord.

Weil sie diesen objektivierenden, demütigenden Blick auf sich selbst verinnerlicht haben, fällt es Sheriff Heidi Kick und ihrer Dispatcherin so leicht, herabwürdigende Witze über sich selbst zu machen. Sie sollen sie abhärten, vorbereiten auf die frauenfeindliche Realität, der sie ständig begegnen. Die Kommentare über ihre Körper, ihr Aussehen, die Anfeindungen, die Übergriffe. Diese Witze sind nur ein Ventil. Sie verändern an der Wirklichkeit rein gar nichts.

Diese Denkmuster sorgen auch dafür, dass sich niemand der Anwesenden auf einer »Privatparty« daran stört, dass Pepper Greengrass zu jung ist, um zu strippen oder sich zu prostituieren. Sie ist nur eine weitere junge Frau, die von Männern ausgebeutet wird, während sie beständig ihr Haargummi gegen ihr Handgelenk knallen lässt und sich verzweifelt einredet, niemand könne sie verletzen. Und sie weiß, dass das nicht stimmt.

Mit Pepper erzählt John Galligan von einem wenig bekannten Auswuchs dieser sexistischen Gesellschaft: Milwaukee, Wisconsin gilt als das »Harvard des Frauenhandels«. Bei seinen Recherchen ist Galligan auf Studien gestoßen, nach denen es eine »moderne Seidenstraße gibt, die Drogen, Waffen und Frauen durch den Mittleren Westen zu den Fracking-Feldern in den Hochebenen der USA und Kanadas transportiert. Diese Route führt genau durch das Gebiet, in dem mein Roman spielt.« Allerdings waren sich die Strafverfolgungsbehörden dieses Problems nicht bewusst. Für eine Studie stellten Forscher »den Leitern der Strafverfolgungsbehörden in mehreren Staaten des Mittleren Westens (allesamt ältere weiße Männer) eine Reihe von Fragen zum Sexhandel in ihrem Zuständigkeitsbereich. Der überwältigende Konsens war, dass es keinen gibt – der Sexhandel ist kein Problem, mit dem sie konfrontiert sind.« Tatsächlich aber ist es ein Problem. »Die Forscher stellten dann die gleichen Fragen an Mitarbeiter*innen von Notfallkliniken, Vergewaltigungskrisenzentren, Frauenhäusern, Obdachlosenheimen und so weiter. Die Mehrheit der Befragten waren Frauen, und sie waren sich mit überwältigender Mehrheit einig, dass der Sexhandel eine Epidemie ist. Es gab eine große Kluft in der Perspektive und Wahrnehmung. Irgendwie sahen die Männer es einfach nicht.« Oder sie wollten es nicht sehen. Als sich in »Bad Axe County« eine minderjährige Ausreißerin an Heidis Ehemann heranmacht, scheint nur er sich daran zu stören. Er versucht, ihr zu helfen. Für andere ist es nur ein weiterer Hinweis darauf, dass er eben ein Frauenheld ist.

Dass ein solcher Ort verstört auf einen weiblichen Sheriff reagiert, ist nur folgerichtig. Das Amt des Sheriffs bedeutet Respekt und Einfluss – in »Bad Axe County« sind das keine weiblichen Eigenschaften.

Sheriff Heidi Kick sieht hin, sie durchbricht das stillschweigende Akzeptieren solchen Verhaltens. Aber diese Denkmuster finden sich nicht nur im ländlichen Wisconsin, dem Mittleren Westen oder den USA. In patriarchalen Gesellschaften, in denen wir leben, gibt es eine Kultur des Wegschauens und Hinnehmens. Auf jede Bewegung wie #Metoo folgt eine Gegenbewegung, die viele Fortschritte wieder zurücknimmt. Noch immer glaubt ein Verbandspräsident, er könnte eine Spielerin vor versammelter Weltöffentlichkeit gegen ihren Willen auf den Mund küssen und es hätte keine Konsequenzen. Und so lange es so ist, brauchen wir mehr Menschen und Bücher, die die zugrundeliegenden Mechanismen offenlegen.