Lesen die Leute bei den Einwanderungsbehörden oder im Innenministerium keine Thriller?
Ein Nachwort von Günther Grosser
Am 1. August 2023 verhängte die US-amerikanische Regierung Einreisebeschränkungen für ungarische Staatsbürger. Die Amerikaner waren besorgt darüber, dass die Identität von fast einer Million Ausländern, denen in den neun Jahren davor ungarische Pässe ausgestellt wurden, nicht ausreichend überprüft wurde. Die Gültigkeitsdauer für Reisen ungarischer Passinhaber wurde von zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt, und jeder Reisende darf nur einmal in die Vereinigten Staaten einreisen. Ein hochrangiger Beamter der US-Regierung sagte, die Änderung sei das Ergebnis jahrelanger erfolgloser Bemühungen der USA, mit der ungarischen Regierung zusammenzuarbeiten, um die Sicherheitsbedenken auszuräumen. Seit 2014 wurden ungarische Pässe ohne strenge Identitätsüberprüfung ausgestellt, einige davon für Kriminelle, die keine Verbindung zu Ungarn haben und aus Sicht der US-amerikanischen Behörden ein Sicherheitsrisiko darstellen.
In DISTRICT VIII, Adam LeBors erstem Teil der Roman-Trilogie um den Budapester Kriminalkommissar Baltazár Kovács, wundern sich britische und US-amerikanische Geheimdienstler, dass viele ungarische Pass-Inhaber, die nach Großbritannien oder in die USA einreisen wollen, kein Wort Ungarisch sprechen und drohen Maßnahmen an. Es stellt sich heraus, dass islamistische Terroristen unter den »neuen Ungarn« sind, ein Thema, das sich in Zwischen den Korridoren, dem zweiten Teil der Trilogie, fortsetzt. Die Romane erschienen in den Jahren 2017 bzw. 2019. Lesen die Leute bei den Einwanderungsbehörden oder im Innenministerium keine Thriller? Vermutlich nicht.
Journalisten mit feinem Gespür wie Adam LeBor gehen derartigen hochinteressanten Vorgängen allerdings nach und machen sich einen Reim daraus, im Falle von LeBor sogar eine Romanreihe. Auch in »Kossuth Square« bewegt dieser Passhandel die Handlung: Islamisten sickern mit ungarischen Pässen in den Westen ein, die Behörden sind alarmiert – jedenfalls diejenigen, die nicht dabei mitverdienen. Verfolgt man aufmerksam die entsprechenden Nachrichten, weiß man auch, dass die islamischen Machthaber des Nahen Ostens hingegen froh sind, die lästigen Schreihälse loszuwerden, stören die verstockten Radikalen beim großen Rubel-Roll-Projekt doch mehr und mehr. Man will sich lieber in Ruhe auf die englischen Fussballklubs, die französischen Luxushotels und die ständig anwachsenden Kunstsammlungen konzentrieren, in die man so viel Geld gesteckt hat. Unterstützung des Terrorismus zahlt sich nicht mehr aus; im Gegenteil: Geschäfte mit dem Westen zu machen und die schier endlosen Möglichkeiten des Kapitalismus zu nutzen, macht jetzt richtig Spaß, bringt noch mehr Geld ein und stärkt Macht und Einfluss der ölfördernden autokratischen Cliquen von der arabischen Halbinsel enorm.
Und obwohl die ungarischen Machthaber und Vertreter der sogenannten »illiberalen Demokratie« damit etwas ganz anderes im Sinn hatten, nämlich Hunderttausende der mindestens zwei Millionen ethnischen Ungarn, die in Nachbarländern – vor allem in Rumänien, Serbien und der Ukraine – leben, durch das vereinfachte Pass-Verfahren die ungarische Staatsbürgerschaft zu ermöglichen und so willfährige Wähler zu schaffen, landen so nebenbei auch islamistische Terroristen problemlos im Westen, in Budapest. Zugegeben, Adam LeBor dreht hier die Schraube etwas an und bringt syrische Giftgas- und Biowaffen-Spezialisten ins Spiel, aber die späten Maßnahmen der US-amerikanischen Behörden beweisen, dass er damals so weit weg von den politischen Realitäten nicht lag.
Und spätestens hier stecken wir nun mitten im Herzland des Thriller-Genres mit seinen zahlreichen Subgenres – das neueste ist der Ökothriller; allerdings ist auch er schon wieder etliche Jahre am Markt – und LeBor wechselt mit seinem Protagonisten Kovács im zweiten Teil der Trilogie vom Polizei-Roman nahezu unmerklich hinüber in die Welt des Polit-Thrillers. Der tote Araber im Puff wirkt auf den ersten Blick wie ein klassisches Mordopfer, und wir sind mit Baltazár Kovács bereit, die klassischen polizeilichen Ermittlungen aufzunehmen. Dann allerdings gerät er sehr schnell in den Sumpf politischer Intrigen, wo Korruption, Vorteilnahme, Vetternwirtschaft, Mauschelei, mit einem Wort: Machenschaften das Bild bestimmen und die Ermittlungsarbeit zur Nebensache wird. Dieses Bild ist hässlich, seine Vertreter sind die Bösen, und die Guten geraten in schweres Wasser.
Im Thriller, wenn er gut ist, steht alles auf dem Spiel – die gesellschaftliche Ordnung, das Machtgefüge, die Leben Einzelner, nicht zuletzt die der jeweils Ermittelnden: Cops, Journalisten, mutige Einzelgänger. Im Kriminalroman will ein Verbrechen aufgeklärt sein, ob von der Polizei oder einem Privatdetektiv, und die Schuldigen müssen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Über welche Verwicklungen hinweg auch immer, der Leser braucht einen plausiblen Verlauf und erwartet eine Aufklärung. Schriftsteller, die Mordermittlungen im Sande verlaufen lassen, müssen sehr viel Mut haben. Der Thriller hingegen kann wesentlich unübersichtlicher sein, die kuriosesten Pfade einschlagen und ständig am Rande der Plausibilität entlangschliddern, weil die Gegenseite, die Bösen – Wirtschaftskriminelle, politische Verschwörer, Geheimdienste, mafiöse Gruppen, die wahlweise mit Drogen, Waffen, Menschen handeln – immer wieder unberechenbare Volten schlagen und in den meisten Fällen über einen unübersichtlichen Machtapparat verfügen, der seine Verfolger, die Guten, ständig vor nahezu unüberwindliche Hürden stellt und vor nichts zurückzuschrecken scheint. Es ist das Reich der Machenschaften, Intrigen und der Apparate.
In LeBors ZWISCHEN DEN KORRIDOREN sind es alte Seilschaften aus den späten Tagen der kommunistischen Herrschaft, die in der Nachwendezeit des ›Vadkakapitalizmus‹, des Wildwest-Kapitalismus das zur Privatisierung anstehende Staatseigentum – Grundstücke, Betriebe, Bodenschätze, Industrie – unter sich verteilten und nun die neue Struktur konsolidieren müssen, koste es, was es wolle. In die Quere kommen ihnen dabei eine neue Generation und das klassische Demokratieverständnis mit Gewaltenteilung, freien Wahlen und unabhängiger Presse. Sie manipulieren, wo sie können, und wenn es nicht mehr geht, greifen sie zum äußersten Mittel – Terrorismus und Gewalt.
Achtung, hier betreten wir ein neues Subgenre, den Action- Thriller! Hier geht es um Geschwindigkeit, ums Zuschlagen, Weglaufen, Davonkommen, um Fallen, die zuschnappen und Fluchtversuche, die erst misslingen und irgendwann dann doch klappen. Das ist eine neue Schraubendrehung, es gibt kein Halten mehr, alles wird hier bis zum Exzess durchgezogen und Katastrophen erst in allerallerletzter Sekunde verhindert. Kovács versucht sich noch mit den Mordermittlungen, will sogar noch den Cold Case eines unter mysteriösen Umständen verstorbenen Familienmitglieds obendrauf packen, da reißen ihn die Mächte der bösen Welt, hier des Umsturzes und Staatsstreichs, in den Strudel des Action-Thrillers.
Und hier stellt sich die Frage nach Plausibilität ganz anders oder gar nicht, hier lohnt sich ein Insistieren auf Glaubwürdigkeit nicht, hier muss der Leser, die Leserin auf Messers Schneide gehalten werden, muss mit Tom Cruise auf dem Motorrad durch die Fensterscheiben im 23. Stockwerk krachen, muss mit James Bond auf den Tragflächen einer fliegenden Boeing 707 balancieren, muss davon ausgehen, dass irgendwie, weiß der Teufel wie, alles gutgehen wird und auch Baltazár Kovács’ diesen Fall über alle Hürden und Unwahrscheinlichkeiten hinweg lösen wird. Und so kommt es dann natürlich.
Was Adam LeBor in diesem halsbrecherischen literarischen Balanceakt – und manchmal droht er wirklich das Gleichgewicht zu verlieren – dabei gleichzeitig mit transportiert, uns unterjubelt und damit unser Vertrauen in die Zukunft stärkt, ist der naive Glaube an die Überlegenheit der Demokratie und der freien Presse und die unaufhaltsame Weiterentwicklung der emanzipatorischen Bewegungen. Für Letzteres lässt er sogar Baltazárs Ex über Transpersonen bei den Roma promovieren. Es ist allerdings nicht die Naivität der Leichtgläubigen und Einfältigen, sondern jener, die die Geschichte der Menschheit bei all ihren katastrophalen Rückschlägen als unaufhaltsamen Weg zum Reich der Freiheit sehen. Denn letztendlich ist es nicht Baltazár, der die Sache geradebiegt, es ist dieser Glaube an den Sieg des Guten. Und dieser tief sitzende Glaube schafft es auch, die schwerfällige Macht der Plausibilität umstandslos auszuhebeln: Wir wissen, dass Tom Cruise und James Bond irgendwie unbeschadet unten ankommen.
Wir wissen zwar nicht, dass alles gut werden wird, aber wir glauben daran. Dieser Glaube – »Die Hoffnung stirbt zuletzt« – hat natürlich eine evolutionäre Funktion und arbeitet eng zusammen mit dem Élan vital, jener Kraft des Lebens, die man nach dem Sturz der Metaphysik im späten 19. Jahrhundert an die Stelle der Transzendenzen zu platzieren versuchte: Gott war gestorben, wer sollte jetzt alles bewegen? Nun, das Leben bewegte sich selber, und der Élan vital, dieser Wille zum Weiter, den der französische Philosoph Henri Bergson Anfang des 20. Jahrhunderts dann so benannte, der so rätselhaft und unbestimmbar blieb, fand seinen kulturellen Ausdruck in allen Varianten jener Siege über die Bösen, über die Katastrophen, das Chaos, den Schrecken.
Glaubwürdigkeit, Plausibilität sind die Ackergäule des Rationalen, der Glaube an das Weiter hinter allen Hürden hingegen ist der weiße Hengst der Hoffnung. Der Kriminalroman verträgt die schleppend langsame Aufdröselung: von A nach B nach C; der Thriller lebt vom Wechsel der Geschwindigkeit, Richtung unbekannt: Geht’s nach B oder zuerst nach C? Adam LeBor täuscht in seinen Romanen um Baltazár Kovács zuerst die Richtung A, B, C mit dem alten Schlachtross vor – und galoppiert dann auf dem Schimmel davon. Wir müssen bloß aufpassen, dass wir mitkommen.