Das Chaos im Zaum halten
Ein Nachwort von Chris Harding Thornton
Als einer, der seit drei Jahrzehnten hauptberuflich schreibt, weist Gary Phillips schnell darauf hin, dass sein Job vor allem ist, eine gute Geschichte zu erzählen. Wenn man ihn fragt, warum er eine der Showdown-Szenen in ONE-SHOT HARRY auf einen Schrottplatz für stillgelegte Trambahnwaggons verlegt hat, räumt er ein, dass die ausrangierten Waggons auf Big Oil und die große Lust der Verbraucher am Autofahren hinweisen, dass ihn als Autor aber die pittoreske Fremdartigkeit des Schauplatzes angezogen hat. Und wenn in der Geschichte erwähnt wird, dass der ehemalige LAPD-Chief William Parker weiße Cops rekrutierte, die im Jim-Crow-Süden ausgebildet wurden, ist das ein aufgeladenes Detail, aber es dient dazu, Zeit und Ort anschaulich darzustellen und greifbarer zu machen, was auf dem Spiel steht. Es ist nur zufällig auch wahr – wie Phillips sagt: Er plaudert damit nicht gerade Geheimnisse aus.
Genauso wenig ist es ein Geheimnis, dass »Krimis« und andere Genres von der »Literatur« abgegrenzt werden, indem man behauptet, in ersteren gehe es nur um die Handlung, während in letzterer kluge Gedanken und das reiche Innenleben der Figuren stecken. Im großen Feld der Erzählkunst ist diese Trennung gleichzeitig relativ neu und weit über ihr Haltbarkeitsdatum hinaus; sie diente hauptsächlich dafür, Bücher zu überhöhen, in denen nicht viel passiert.
Man sollte sich da allerdings nicht täuschen: ONE-SHOT HARRY ist wie auch der Rest von Gary Phillips’ umfangreichem Werk sowohl höchstklassiger Krimi als auch Literatur. Die Story zeigt und analysiert genug Ideen, um ganze Doktorarbeiten zu inspirieren, wobei sie die Vergangenheit der USA auf eine Weise einfängt, wie das die meisten Sachbucherzählungen nicht tun: nuanciert. Rasiermesserscharfe Beobachtungen zu gesellschaftlichen Hierarchien enthüllen das Risiko, dass beim Blick auf die Schicht das Individuum vergessen wird. Reale Geschichte, Fakten und Ereignisse, die die Figuren noch nicht kennen können – wie Dr. Martin Luther Kings Ansichten zu Vietnamkrieg und Einkommensverteilung oder sowohl seine Ermordung als auch die von Malcolm X –, ergänzen Bedeutungsebenen und beschäftigen noch lange, nachdem die letzte Seite umgeblättert ist.
Diese Geschichten zu erhalten zieht sich als roter Faden durch ONE-SHOT HARRY. Manchmal ist Erhalt ein Muss: Figuren raten der Titelfigur des Buchs, Harry Ingram, seine Fotografien zu archivieren, während Ingrams neue Freundin Anita Claire dabei hilft, eine Bibliothek zusammenzustellen, die der Arbeiterbewegung gewidmet ist, weil sie weiß, »(dieser Teil der Geschichte) wird sicher nicht an unseren Schulen gelehrt werden«. In anderen Szenen arbeitet Phillips große und weniger bekannte Musiker, Schauspieler, Künstler, Politiker und Anführer von Bürgerrechts- und Arbeiterbewegungen ein. Harry Ingram selbst ist von zwei tatsächlichen Fotografen inspiriert, Arthur »Weegee« Fellig in New York und Harry Adams in Los Angeles. All diese Anspielungen machen die fiktionale Welt realer, und gleichzeitig blinzelt ein metafiktionaler Moment dem Leser listig zu und deutet noch etwas mehr an. Eine Figur, deren Vater seine Memoiren schreibt, sagt: »Er hätte gern die Fakten, um die Fiktion zu schreiben«.
Gary Phillips hat die Fakten, und ebenso wie er sie ineinander verwebt, tut Ingram das selbst auch. In einer Szene fragt sich Ingram, ob die Fotografie seine Art ist, in seiner aus den Fugen geratenen Welt »einen Sinn in dem Chaos zu erkennen«. Der Moment wirkt wie ein Echo der Dichterin und Dramatikerin Edna St. Vincent Millay, die »Chaos in vierzehn Zeilen bringen« wollte, und Robert Frost, für den Gedichte ein »vorübergehender Halt gegen die Verwirrung« waren. In Teilen ist genau das Erzählkunst – eine vorübergehende, aus dem Leben geschöpfte Form. Schriftsteller formen und sparen aus, um Bedeutung zu erschaffen, und wenn es ihnen gelingt, machen die Leute mit klopfendem Herzen eine gemeinsame Erfahrung auf dem Weg zur Katharsis.
Um die Welt verstehen zu können, schaffen Menschen natürlich selbst auch täglich Bedeutung, indem sie formen und aussparen. Und manchmal landen sie bei einer weiteren komplexen thematischen Facette von ONE-SHOT HARRY: Verschwörungstheorien.
Als Harry Ingram nach Antworten zum plötzlichen Unfalltod seines Freundes Ben Kinslow sucht, der ein hervorragender Fahrer war, findet er kaum mehr als eine Ahnung. Ja, Ben sagte, er habe große Pläne, dass er bestimmt nicht lange für einen Patrizier aus der alten Welt wie Winston Hoyt arbeiten werde. Und ja, Ben hielt sich mit Details zurück – darüber, warum genau er und Harry vielleicht bald einen Grund zu feiern haben würden. Doch als Harry ein Foto der durchtrennten Bremsleitung an Bens Auto zu Mechaniker Jed Monk bringt, sagt der: »Ehrlich, Harry, ich kann nicht sicher sagen, dass ich dasselbe sehe wie du.« Und Harry weiß auch, dass er vielleicht »falsches Spiel sehen (wollte), wo keines war«. Ob Bens Tod schlicht ein Autounfall war oder nicht, beschäftigt Harry – bis sich seine Ahnung als absolut richtig erweist.
Während das Wort »Verschwörung« in den Zeiten, in denen wir leben, so oft von »Theorie« gefolgt wird, dass die Leute vergessen, dass nicht alle Verschwörungen Theorien sind, bietet ONE-SHOT HARRY einen starken Gedanken an. Er erinnert uns: Menschen planen durchaus Verschwörungen. Und wenn wir das vergessen, laufen wir Gefahr, jeden zu gaslighten, der auf das Offensichtliche hinweist – dass es in der Vergangenheit von Menschen in Machtpositionen Verschwörungen gibt. Sie haben sich verschworen, Regierungen zu stürzen, Personen des öffentlichen Lebens zu ermorden, die mehr als den Status quo fordern, die Machtlosen gegeneinander auszuspielen und ihnen jede Möglichkeit auf Rückhalt zu nehmen.
Natürlich ist das nur eine Interpretation, und falls Gary Phillips das sagen wollte, hätte er das tun können, ohne eine lebende, atmende, pulsierende Figur wie Harry Ingram zu schnitzen. Aber wie Phillips sagt: »Das kann man alles machen … solange man damit durchkommt.« Am Ende ist nach einer spannenden Reihe von Was-wäre-wenns nur eines sicher – die Wartezeit, bis das nächste Buch der Reihe, Ash Dark as Night erscheint, wird uns viel zu lang erscheinen.