Retterkomplex

Ein Nachwort von Jon Bassoff

 

©Max Soklov/Adobe Stock

Es ist völlig logisch, dass Buck – der brutale, aber im Grunde gutmeinende Protagonist in Wayne Johnsons spannendem Roman Das rote Kanu – ausgerechnet Tischler ist. Sein Retterkomplex wird schon auf den ersten Seiten offenbar, und auch wenn er kein biblischer Messias ist, so bringt er doch Rettung in blutigem Stil. Ob mit dem Messer oder der Schusswaffe, im Auto oder im Kanu, Buck ist ein echter Haudegen. Gut, er greift zu Gewalt, aber welcher romantische Held tut das nicht? Mit seinem unerbittlichen Schweigen und seinem Gleichmut wirkt er so rätselhaft wie Batman, oder vielleicht wäre Clint Eastwoods Fremder ohne Namen ein besserer Vergleich. Schließlich erfahren wir ebenso wenig über Bucks Vergangenheit. Anscheinend war er früher ein erfolgreicher Baseballspieler, aber wie lange? Seine Expertise im Nahkampf lässt vermuten, dass er irgendwann für die Regierung gearbeitet hat, aber was genau, bleibt reine Spekulation. Sein älterer Bruder wurde erschossen. Wir wissen, dass er eine Tochter hat, die irgendwann in »Schwierigkeiten« geraten ist. Wir wissen auch, dass er verheiratet war und dass sie ihn nicht mehr erträgt. Wieso? Schwer zu sagen. Sie drückt es so aus: »Deine Art zu leben macht mir Angst.« Was das bedeuten mag, bleibt im Dunkeln, allerdings bekommen wir eine Ahnung, sobald er zu seinem Sturmgewehr greift. Wenn es sein muss, wird er zur Tötungsmaschine. Wieder der Retterkomplex.
Aber als wir Buck zum ersten Mal begegnen, wirkt er weder wie ein Held noch wie ein Anti-Held, sondern ganz einfach lebensmüde. Um zu entscheiden, ob er sich das Hirn wegschießen soll, wirft er eine Münze. Kopf, Leben. Zahl, Tod. Also wirft er. Und wieder und wieder und wieder. Jedes Mal Kopf. Das kann nicht nur Glück sein, oder? Schützt hier der Vater seinen Heiligen Sohn? Buck wirkt nicht wie einer, der besonders gottesfürchtig wäre – kein »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«. Er vertraut sein Schicksal eher einer Münze als einem unsichtbaren Beschützer an. Trotzdem fragt man sich …
Nachdem ihm die Münze (Gott) das Leben gerettet hat, gibt ihm das Mädchen, Lucy, einen Grund zum Weiterleben. Sie erscheint durch den Nebel wie ein Engel, wenn auch ein zerrupfter, in ihrem »Lass-mich-mit-deinem-Scheiß-in-Ruhe-pinken Hoodie«, mit den »Stacheldrahttattoos auf ihren Händen« und »den zerfetzten Löchern an den Knien ihrer Jeans«. Schwer zu sagen, warum sie ihn aufsucht, was sie in ihm sieht, aber vielleicht ist auch hier göttliche Vorsehung im Spiel. Sie brauchen einander. Sie braucht ihn zum Schutz gegen das Schlimmste und Böseste, das vorstellbar ist, und er braucht sie als Grund zum Leben. Was wäre ohne die Menschheit aus Jesus geworden? Er bemerkt sofort den Blutfleck zwischen ihren Oberschenkeln und weiß, dass sie in Schwierigkeiten steckt. Aber er fragt nicht nach. Weder ist er sofort auf Rache aus, noch spielt er gleich den Retter. Stattdessen wartet er geduldig ab, bis sie ihm erzählt, wer ihr was angetan hat. Er baut Vertrauen auf. Er lässt sich auf eine Beziehung ein.
Buck und Lucy sind in vieler Hinsicht genaue Gegensätze. Da ist zunächst das Offensichtliche: Buck ist ein erwachsener Mann, Lucy noch ein Mädchen. Dann ihr Charakter: Buck ist stoisch, handelt kontrolliert und methodisch. Lucy ist emotional, impulsiv und waghalsig. Er bittet sie immer wieder, zu warten und sich auf ihn zu verlassen, aber sie weigert sich. Und kann man es ihr übel nehmen? Wer derart traumatisiert wurde wie sie, dem fällt es schwer, stillzusitzen und darauf zu warten, dass alles von allein wieder gut wird. Nichts zeigt ihre Impulsivität drastischer als die Szene, in der sie sich den eigenen Finger abhackt. Was für ein Schock! Hätte sie nicht mit ihrem Vater reden und ihm die Situation erklären können, ihm klarmachen können, dass die bösen Männer sie beide umbringen wollen? Vielleicht. Aber sie weiß um die Traumata, die ihren Vater umtreiben, und dann ist da noch dieses unausgesprochene Dilemma: Was, wenn er ihr nicht glaubt? Ja, er ist ihr Vater, aber er ist auch ein Mann. Und ein Mann ist eher geneigt, einem anderen Mann Glauben zu schenken, selbst wenn das Opfer die eigene Tochter ist.
Die zweite Hälfte des Buchs ist dann ein wahrer Actionthriller inklusive Verfolgungsjagden, Schießereien und Folterszenen, die aber niemals die gleiche emotionale Wirkung entfalten würden, wenn Johnson uns die Charaktere im ersten Teil nicht so nahegebracht hätte. Buck bleibt ein Rätsel, aber seine Gefühle sind echt. Selbst seine Kritiker – in erster Linie seine Frau – sehen ihn als guten Menschen, als jemand, der sein eigenes Leben opfert, um eine Unschuldige zu retten. Lucy ist, wie Kris Kristofferson einst sang, »a walking contradiction«, ein lebender Widerspruch. Das erlittene Trauma, die furchtbaren Vergewaltigungen durch die Kollegen ihres Vaters, ersticken sie, trotzdem ist sie unglaublich mutig und clever. Das Abhacken des Fingers habe ich schon erwähnt. Aber das ist nicht alles. Sie bewaffnet sich mit einer Pistole. Sie spioniert die korrupten Polizisten aus. Sie beschützt ihren Vater und ihre Freunde. Und diese, nämlich Booker und Ryan, bringen Leben und Leichtigkeit in die Geschichte. Geht Johnson ein Risiko ein, wenn er mit Stereotypen spielt (der asiatische Streber, der coole Schwarze)? Vielleicht. Aber im Laufe des Romans stellen sich die beiden als klug und mutig heraus, sie sind die besten Freunde, die man haben kann. Man kann die Diversität ihrer Herkunft nicht übersehen: ein Asiate, ein Schwarzer und eine Native American. Die korrupten Polizisten und Kirchenmänner repräsentieren die dominante und brutale weiße Kultur, Lucy und ihre Freunde die Marginalisierten unter uns. Auch Buck gehört einer Minderheit an, er ist ebenfalls Native, er kennt das. Zu den berührendsten Szenen des Romans gehören die, in denen er und Lucy durch ihre Muttersprache in Verbindung treten. Eine geheime Sprache. Ein geheimer Bund. Und dann ist da natürlich noch das rote Kanu. Es lockt nicht nur die Verbrecherbande in die Höhle, er erinnert uns auch an Lucys und Bucks Wurzeln. Schon früher haben sich die Natives gegen ihre Peiniger gewehrt. Lucy und Buck tun es jetzt.
Das Böse, dem sich Buck und Lucy in diesem Roman entgegenstellen, ist deshalb so erschreckend, weil es so menschlich ist. Ja, der beiläufige Rassismus. Ja, der Frauenhass. Aber am fürchterlichsten sind Missbrauch und Pädophilie. Und dass die Täter genau die Leute sind, denen wir eigentlich vertrauen sollten – Polizei und Klerus –, macht alles noch schrecklicher. Die einzigen Menschen, auf die Lucy zählen kann, sind ihre Freunde. Lehrern, Priestern oder Polizisten kann sie sich nicht anvertrauen. Deswegen braucht sie Buck. Sie braucht einen Erwachsenen, der Macht hat. Nicht Macht im politischen Sinn, sondern die Macht eines Erwachsenen. Er wird ein ersehnter moralischer Kompass in einer scheinbar völlig unmoralischen Welt.
Das ist keine leichte Geschichte, aber Wayne Johnson versteht sein Handwerk. Alles ist untertrieben. Alles fühlt sich real an. Wo es Lyrik braucht, setzt er sie ein. Beispielsweise in diesem Absatz gegen Ende des Romans: »Das Eis unter seinen Füßen war klar wie Glas, etwa fünfzehn Zentimeter dick, darunter scheinbar bodenlose Tiefe, und an dieser Stelle sorgte eine wärmere Strömung für dünneres Eis, eine Art natürlicher Fluss, dem er folgte, immer weiter hinein, als würde er auf Wasser gehen. Eine Höhle nach der anderen, das Eis leuchtete im Morgenlicht, die Stalaktiten gewellt und spitz, wie in einer mystischen Kathedrale, zweifelsohne war die Höhle schon immer eine Attraktion gewesen.« So düster die Geschichte auch ist – und sie ist sehr düster –, Johnson bringt uns dazu, weiterzulesen, weil uns die Charaktere ans Herz gewachsen sind, weil uns die Handlung fasziniert und weil uns die Sprache berührt.
Eine Figur habe ich noch nicht erwähnt: Gyg, die Katze. Leben. Sie wandert durch Bucks Leben, kommt dann zu ihm, wenn sie gefüttert oder gestreichelt werden will. Sie braucht Buck, genau wie Lucy ihn braucht. Und Lucy mag sie auch. Am Ende des Romans kehrt sie zurück und »sah von ihm zu ihr, und die Sonne fiel durch die Blätter der Bäume.«
Ein wunderbares Ende für dieses Buch: Die Katze erinnert uns daran, dass das Leben weitergeht, selbst für diejenigen unter uns, die Traumata erlitten haben.