Helden ohne Makel sind langweilig
Ein Nachwort von Lore Kleinert
»Das Böse« gönnt denen, die es »bis hierher« geschafft haben, keine Ruhepause: Äußerst eindrücklich findet der Film »Die Nacht des Jägers« von 1955 Bilder dafür. Zwei Kinder fliehen aus ihrem Zuhause, ein düsterer Prediger, von Robert Mitchum genial in Szene gesetzt, trabt ihnen nach, unaufhaltsam scheinbar und gänzlich ohne Skrupel. LOVE und HATE hat er auf seine Finger tätowiert, Vorbild für zahllose Rocker und Ganoven nach ihm. Billy und Sally heißen die kindlichen Opfer in Charles Laughtons Meisterwerk des Film noir. Die Pointe: Es geht um viel Geld, das ihr Vater erbeutet und versteckt hat. Ein Film, den Posts zweiter Roman zwar mit den grellen Farben des Südens der USA überstrahlt, doch sein düsterer Klang, seine Schwärze schiebt sich dennoch vor die sonnensatten Szenen Floridas. Denn das Böse erscheint in vielerlei Gestalt und ruft die alten Filmbilder wach. Um Geld und Einfluss dreht sich auch die Welt, die Steph Post entwirft, und Rache ist ebenso eine Antriebsfeder wie Habgier. Mit Mr. Weaver hat sie eine Figur eingefädelt, deren schwarze Energie weitere Filmbilder evoziert. Sie erinnern, sehr zeitgemäß, an Quentin Tarantinos filmische Gewaltausbrüche. Für Posts Romane, in denen sie immer auch nachspürt, warum eine Person zu dem wurde, was sie ist, ist der totale Killer Weaver eher ungewöhnlich, für die Geschichte aber bestens geeignet, einige der Protagonisten an ihre Grenzen zu treiben. Dennoch: »Charaktere, die nicht ›grau‹ sind, sind langweilig. Schurken ohne Geheimnisse sind langweilig. Helden ohne Makel sind langweilig. Und überhaupt ist jede Figur ohne eine gewisse Verletzlichkeit langweilig.« (Interview Steph Post Jan. 2024) Auch die düstersten Akteure haben also ihre Geheimnisse, und die Autorin enthüllt sie sparsam und mit Eleganz.
Steph Posts große Stärke ist es, die verschiedenen Kraftfelder im überschaubaren Kosmos ihres Romans so aufzustellen, dass sie unweigerlich in Konflikte geraten. Wichtig sind dabei die Herausforderungen, vor die sie die einzelnen Akteure stellt. Die Familie Cannon hat ihr Oberhaupt, den Vietnamveteran Sherwood, verloren, und als die »Cannon Brothers« bedroht werden, reagieren sie und treffen Entscheidungen, die ihre eigentlichen Pläne über den Haufen werfen.
Judah, der dem kriminellen Erbe der Familie entkommen will, gerät in die bekannte Spirale aus Rache und Schuldgefühl, und wie ein Sog lockt der Rückzug auf das, was vermeintlich den einzigen Schutz bietet: die Familie, die Zwangsjacke der Zugehörigkeit in einer feindlichen Umgebung. Der sorglose und heitere jüngere Bruder Benji, schwer verletzt schon im 1. Band, ist von Bitterkeit zerfressen und verlangt nach Rache. In dem Maße, wie die Bedrohung wächst, wird der Spielraum für Judah als mögliches neues Oberhaupt der Familie enger, ein wohlbekanntes Muster im Kriminalroman und im Film, und Anklänge an Michael Corleone in »Der Pate II« oder Jax Teller in »Sons of Anarchy« drängen sich auf.
Steph Posts Romane kommen als wilder Ritt durch eine arme, ländliche Gegend im Norden des Sonnenstaats daher und sind doch auch offen für mythische Elemente. Seit Generationen ist ihre Familie hier angesiedelt, und sie wünscht sich, mehr Menschen würden verstehen, wie wild Florida sein kann, mit tiefen Wäldern, riesigen Grasflächen, Sümpfen und einer unglaublichen Vielfalt an Tieren und Pflanzen. Zugleich bieten die trostlosen Gemeinden jungen Leuten wenig Aussicht auf Zukunft. Der amerikanische Traum ist schon lange ausgeträumt, und wer keine Chance hat und weiß, was es heißt, verletzt zu werden, muss alles nutzen, was sich bietet. In Silas in Bradford County nicht anders als in ähnlich verlassenen Landstrichen wie den Appalachen oder den Slums der großen Städte. Waren es im ersten Band noch die Rocker, mit denen die kleinkriminelle Cannon-Familie zusammenstieß, sind es jetzt die professionelleren Banden, die ihre Netzwerke im Schmuggel und Drogenhandel ausdehnen – und eine neue Kraft, die sich aus der ländlichen Welt der evangelikalen Erweckungskirche des ersten Romans herausgearbeitet hat.
Mit der Predigerin Schwester Tulah Atwell erweist sich diese Macht als weitaus politischer als zuvor, und auch wesentlich zeitgemäßer. Bradford County ist weitgehend in ihrer Hand, die Menschen schweigen, sind seit fünfzehn Jahren eingeschüchtert, und das hat mit ökonomischen Bereicherungen, Phosphatminen und politischen Machenschaften zu tun, deren Drahtzieher im Bundesstaat viel weiter oben sitzen. Pseudoreligiöse Inszenierungen machen sie sich längst zunutze, und die Agenten des Staats haben keine Chance. Offene alte Rechnungen treffen auf modernste Praktiken des Betrugs, und ernstzunehmende Kriminalliteratur kommt um die politischen Aspekte modernen Lebens nicht herum. Auch hier bringt Steph Post eine Außenseiterfigur ins Spiel, mit Special Agent Clive Grant, der instinktbegabt und beharrlich herauszufinden versucht, warum niemand etwas gegen die Frau unternimmt, die den Bezirk von ihrer Kanzel aus zu regieren scheint. Er glaubt an die Macht der US-Bundesbehörden, für Gerechtigkeit zu sorgen, doch damit steht er allein da – kein anderer Charakter in diesem Buch setzt Vertrauen in den Staat, auch die nicht, die davon profitieren oder ihm zumindest helfen könnten.
Steph Post, und das ist eine weitere Stärke ihrer Romane, hat in den armen, ländlichen Gebieten der USA gelebt und weiß, wie tief verwurzelt das Misstrauen gegenüber der staatlichen Administration ist. All ihre Erfahrungen haben die Menschen dort darin bestärkt, staatliche Hilfe und staatliche Eingriffe abzulehnen, und das blendet weit in die Geschichte der USA zurück. Dubiosen Führerfiguren spielt diese Grundhaltung in die Hände, da sie die damit verbundenen Defizite populistisch zur Sprache bringen – und für diese Gemengelage hat die Autorin ein feines Gespür und einen scharfen Blick. Ihre Protagonisten haben zwar mitunter grandiose Träume, aber auch die Erfahrung des Scheiterns: »Am Ende des Tages hoffe ich, dass unser Leben noch mehr zu bieten hat. Doch ich wäre nicht überrascht, wenn es weniger wäre. Und damit komme ich klar.« (Ramey in Lightwood)
Die Frauen sind in dieser Welt keineswegs Opfer; Judahs Jugendfreundin Ramey, das »Girl, das keine Furcht kannte«, verkörpert die bessere, starke Seite ihres Freundes und muss dennoch ihre eigene Rolle finden. Sie hält sich in der von Männern dominierten Gesellschaft über Wasser, als moralischer Kompass und als kühler Kopf, sie kämpft und überschreitet Grenzen, wenn es nicht anderes geht: »In unserem Leben gibt es Dinge, die wir getan haben und Dinge, die uns angetan wurden. Und Dinge, die wir noch tun müssen.« Vor Drecksarbeit muss sie nicht errettet werden, denn sie kennt sie und scheut sie nicht, und statt Liebe ist es eher der Wunsch, die elenden Verhältnisse mit Judah gemeinsam hinter sich zu lassen. Und sie hat die Stärke, sich unerwartete Verbündete zu suchen. Steph Post bezieht sich ausdrücklich auch auf weibliche Autorinnen, die sie inspiriert haben, und ihre eindeutige Haltung erweist sich als weitere große Stärke ihrer Romane.
Weavers Bande, Judah Cannons Familie, Schwester Tulahs als Gemeinde getarnter Machtbereich: Steph Post baut ein Szenario auf, das im Fadenkreuz von Verbrechen, Politik und Leidenschaften zwangsläufig auf Hochspannung und gewaltsame Entladung hinausläuft.
Wie die Konfliktlinien allerdings genau verlaufen, welche Zündschnüre für Explosionen sorgen werden, wer zum Täter oder Opfer wird, entwickelt sie mit großer Geduld, viel Sinn für richtiges, filmreifes Timing und auch mit Blick auf den letzten Band ihrer Florida-noir-Trilogie, deren deutsche Übersetzung noch folgt.
Übersetzt von Lore Kleinert