Weiterleben
Ein Nachwort von Sonja Hartl
In Eingeäschert, dem ersten Band mit den Skelf-Frauen, gibt es nach rund 40 Seiten einen auf den ersten Blick fast beiläufigen Dialog zwischen der 70-jährigen Dorothy Skelf und ihrer 45-jährigen Tochter Jenny:
»Nein«, antwortete Dorothy durchaus nicht unfreundlich.
»Bei keinem von uns ist alles in Ordnung, und ich gehe
auch nicht davon aus, dass sich das in absehbarer Zeit ändert.
Aber wir müssen weitermachen, oder?«
»Müssen wir?«
Dorothy nahm Jennys Hand. »Was können wir sonst tun?«
In diesen Sätzen steckt der Kern von Doug Johnstones Reihe um die Skelf-Frauen, zu denen noch Dorothys 20-jährige Enkeltochter Hannah gehört: Sie erzählt davon, wie Menschen nach schrecklichen Ereignissen weitermachen. Das beginnt im ersten Teil mit dem Tod von Ehemann, Vater und Großvater Jim Skelf, durch den die Frauen auf sich gestellt sind. Sie betreiben das Beerdigungsinstitut und die Privatdetektei weiter – und müssen den Verlust verarbeiten. Jim Skelf hatte ein Geheimnis, das sie in »Eingeäschert« aufdecken – aber im Kern war er ein guter Mann. Weitaus traumatisierender sind die Ereignisse um Jennys Ex-Ehemann und Hannahs Vater Craig. War schon die Scheidung mitsamt Craigs Betrug nicht einfach für Jenny zu verkraften, entpuppt er sich als gefährlicher Mörder und versucht, Jenny und Dorothy zu töten.
Die Schläge, die die Frauen nicht nur im übertragenen Sinn einstecken müssen, kommen also nicht aus ihren teilweise turbulenten Fällen, in denen sie als Privatdetektivinnen ermitteln. Die Gefahr kommt von dort, wo sie für die meisten Frauen ist: aus dem Privaten. Von einem Mann, den sie kennen. In EINBALSAMIERT ist Craig weiterhin auf der Flucht. Er lauert im Verborgen, ist eine konstante Bedrohung im Leben dieser Frauen.
Das ist ein bemerkenswerter Aspekt dieser Reihe: Die Ereignisse gehen nicht spurlos und in Windeseile an den Frauen vorbei. EINBALSAMIERT spielt ungefähr zwei Jahre nach dem ersten Teil, aber dennoch verarbeiten sie das bisherige Geschehen – und zwar in ihrem Alltag in Edinburgh. So trifft Dorothy sich mit einem neuen Mann, hält an ihrer Hilfsbereitschaft und ihrem Schlagzeugspiel fest. Dennoch vermisst sie Jim. Die Trauer ist weiterhin da. Sie verändert sich nur.
Das gilt auch für Hannah. Dass der Vater die beste Freundin ermordet und danach die Großmutter und Mutter zu töten versucht, schüttelt man nicht einfach ab. Aber anders als Filme, Serien und populäre Instagram-Reels erzählen, ändert Hannah nach diesen traumatischen Ereignissen nicht ihr gesamtes Leben. Stattdessen bleibt sie mit ihrer Freundin Indy zusammen, macht ihren Abschluss in Physik an der University of Edinburgh – und eine Therapie. Sie will zuversichtlich in ihre Zukunft blicken, sich der Welt verbunden fühlen. Und Jenny? Jenny trinkt traurig Gin Tonics, trifft schlechte Entscheidungen und ist wütend. Auf Craig, auf die Welt, auf gesellschaftliche Erwartungen. Diese Wut hilft ihr, morgens aufzustehen, zu arbeiten und für sich einzustehen.
Drei Frauen aus unterschiedlichen Generationen, drei verschiedene Wege, mit dem Leben weiterzumachen. Aber Doug Johnstone erforscht den Umgang mit traumatischen Erfahrungen nicht nur bei seinen Hauptfiguren. Nicht nur Hannah muss damit leben, dass ihr Vater kriminell ist. Auch die 15-jährige Abi, eine der »Streunerinnen«, die Dorothy Skelf aufgenommen hat, lernt in EINBALSAMIERT ihren Vater kennen. Dieser Erzählstrang ist wie eine traurige Fortsetzung der ikonischen Szene des Films »Chinatown«: Abis Mutter ist ihre Mutter und ihre Schwester. Dazu gehört ein Vater, der seine eigene Tochter vergewaltigt hat. Viele Kriminalromane würden es bei der bloßen Entdeckung dieser Tatsache belassen – sie hat bereits in dem vorherigen Teil stattgefunden. Doug Johnstone gräbt tiefer. Abis Großvater/Vater taucht auf, will an ihrem Leben teilhaben. Er ist einer der Männer in dieser Reihe, die die Leben von Frauen und Kindern ruinieren. Jedoch geht es hier glücklicherweise nicht darum, seine Motive zu ergründen oder gar sein Verhalten verstehen zu wollen. Auch bei Craig wird das an keiner Stelle versucht. Stattdessen richtet Johnstone den Blick auf diejenigen, die mit den Konsequenzen des Verhaltens leben müssen: Abis Mutter, die versucht hat, ihrer Tochter mit Lügen eine Art Sicherheit zu vermitteln, die verloren gegangen ist. Und nun Abi, die einen Weg finden muss, mit all dem Wissen und den Erfahrungen umzugehen. Dass ihr Erzeuger dabei keine Hilfe sein wird, macht Johnstone sehr deutlich.
Abi ist ein Beispiel für die vielen Nebenfiguren in dieser Reihe, die unbedingt dazugehören: Sie liefern wichtige Facetten und Nuancen, sind Teil des vielschichtigen Beziehungsgeflechts, das in dieser Reihe entstanden ist. Im Zentrum steht die unverbrüchliche Loyalität der Skelf-Frauen zueinander und zu den Menschen in ihrem Leben. In ihrem privaten und beruflichen Umfeld gibt es aber noch weitere Beziehungen: glückliche und gescheiterte Ehen, Liebesaffären, vorsichtige Neuanfänge. Das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern ist ein wichtiger Teil, es gibt abwesende, verurteilende und falsche Väter. Die Frauen und Mütter machen bestimmt nicht alles richtig. Gewalt aber geht fast immer von Männern aus.
Tod, Trauer und Verlust sind Themen, die mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt sind. Bücher wie diese helfen, den Tod als Teil des Lebens zu sehen und verschiedene Wege zu erkennen, wie man mit ihm umgehen kann. Auffällig ist: Es gibt keinen richtigen und keinen falschen Weg. Aber es gelingt nur denjenigen, die sich ihren Gefühlen stellen, ihrer Wut und ihrer Trauer. In EINBALSAMIERT wurzelt der größte Kummer in Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Eine Beziehung droht zu zerbrechen, ein junger Mann zu verzweifeln, weil er keine Worte für seine Trauer findet. Eine Frau benennt nicht ihre Einsamkeit, sondern greift zu letztlich tödlichen Mitteln. In ihrer Stille verbirgt sich die Sehnsucht nach menschlichen Verbindungen.
Auch deshalb ist der englische Originaltitel »The Great Silence« so treffend (widerspräche aber der Reihenlogik der deutschen Titel). Stille kommt einige Male vor in diesem Buch: Stille in Unterhaltungen bringt wichtige Erkenntnisse. Sie folgt auf ein wütendes Schlagzeugspiel und ist »überwältigend«. Sie ist wohltuend, untermalt vertrautes Beieinandersein. Aber sie ist eben auch zerstörerisch. Stille ist nicht das eine oder das andere.
Diese Vieldeutigkeit steckt ebenfalls in dem Originaltitel: »The Great Silence« spielt auf das sogenannte Fermi-Paradox an. Stark vereinfacht zusammengefasst entstand es angeblich so: Der Physiker Enrico Fermi saß 1950 mit Kollegen in der Mittagspause in Los Alamos zusammen und sprach über die UFO-Sichtungen, die zuvor gemeldet wurde. Dann soll er gefragt haben: »Where is everybody?«. Sollte es Leben außerhalb der Erde geben, so seine Überlegungen, hätten die Menschen mittlerweile etwas hören müssen. Stattdessen aber ist da diese große Stille.
Dieses Paradoxon verhilft Hannah zu der wichtigen Erkenntnis, dass sie bisher in einem Fall die falschen Fragen gestellt hat. Dadurch hat sie übersehen, dass es mehr Möglichkeiten als »wahr« oder »falsch« gibt. Das ist ein hochinteressanter Gedanke gerade im Kriminalroman, in dem oftmals eine Lösung als einzig wahre präsentiert wird. Schaut man aber genauer hin, bezieht selbst sie sich meist nur auf einen Teilaspekt. Denn die Wahrheit ist unübersichtlich.
Entweder-oder-Denken hilft nicht weiter. Nicht im Leben, nicht bei diesem Buch oder in dieser Reihe. EINBALSAMIERT ist nicht entweder ein Roman über Leben und den Tod oder ein Privatdetektivinnenroman. Er ist beides. Und noch viel mehr.