Über Eisberge und Auslöschung
Ein Nachwort von Chris Harding Thornton
Als ich kürzlich mit David L. Ulin über Die Frau, die schrie, sprach, erwähnte er, dass er sich zu Figuren hingezogen fühle, die ein echtes Leben haben – Menschen, die außerhalb der Geschichten, in denen sie auftreten, zu existieren scheinen. Er sagte: „Diese Figuren sind nicht einfach nur Geschöpfe, um das Buch mit Leben zu erfüllen. Sie sind Individuen. Menschen. Dreidimensionale Menschen, die in einer Art imaginärem Raum existieren. Ich komme sie für einen bestimmten Zeitraum besuchen, aber sie existieren außerhalb dieses Zeitraums.«
Seine Feststellung lässt das sechzehnte Kapitel von Hemingways Tod am Nachmittag (1932) anklingen, wo es heißt: „Beim Verfassen eines Romans sollte der Schriftsteller lebendige Menschen erschaffen; Menschen, nicht Figuren. Eine Figur ist eine Karikatur.«
Ich weiß – auch auf die Gefahr hin, dass so der Eindruck entsteht, ich hätte ein photographisches Gedächtnis –, dass Hemingway dies im sechzehnten Kapitel von Tod am Nachmittag gesagt hat, weil dort einer seiner unverändert gültigen Ratschläge zum Schreiben zu lesen steht: „Wenn ein Prosaschriftsteller genug über das weiß, worüber er schreibt, darf er Dinge auslassen, die er kennt, und der Leser wird, falls der Schriftsteller wahrhaftig genug schreibt, ein ebenso starkes Empfinden für diese Dinge verspüren, als hätte der Schriftsteller selbst es bekundet. Die Erhabenheit der Bewegung eines Eisbergs verdankt sich lediglich dem einen Achtel über Wasser.“
Vorausgesetzt, Hemingway wusste nicht allzu viel über Eisberge, hätte er vielleicht seinen eigenen Rat befolgen und die Metapher weglassen sollen. Aber der Grundgedanke scheint zutreffend zu sein, auch wenn es mit den naturwissenschaftlichen Kenntnissen hapert. Je mehr wir über die Menschen und die Gegebenheiten wissen, über die wir schreiben, desto überzeugender und realer erscheint die Geschichte, und desto mehr Freiheit haben wir, Einzelheiten wegzulassen, die der Geschichte nicht dienlich sind. Den meisten Schriftstellern, die ich kenne, ist dieser Eisberg viele, viele Male eingetrichtert worden.
Hemingway beschließt seinen Ratschlag, indem er eine deutliche Warnung ausspricht: „Ein Schriftsteller, der Dinge auslässt, weil er nichts von ihnen weiß, erzeugt durch sein
Schreiben lediglich Hohlräume.“
„Hohl“ – das klingt geradezu fatal.
Was fängt man also mit einer Figur wie dem namenlosen Erzähler von DIE FRAU, DIE SCHRIE an? Einem Mann, dessen Geschichte nicht erzählt wird, der willentlich sein Gedächtnis auslöscht, der trinkt, um das Bewusstsein auszuschalten, der nicht „in die Vergangenheit zurückfallen will“. Nach eigener Aussage ist er ein metaphysischer Solipsist. Für ihn gibt es keine objektive Realität, nur Wahrnehmungen, und diese Wahrnehmung ist, soweit irgend möglich, auf das Richtige im Hier und Jetzt beschränkt.
Natürlich musste ich, weil ich diesen Eisberg im Sinn hatte, Ulin zu seinem Eisberg befragen. Was befand sich unter Wasser bei seinem Erzähler? Welche Geschichte hatte er? Seine Antwort schockierte mich: „Ich wollte es nicht wissen. (…) Weil ich eine Erzählung in der Ich-Form schrieb, wollte ich in der Lage sein, ihn aus seiner eigenen Ungewissheit und seinem eigenen Vergessen heraus zu entwickeln. Wüsste ich zu viel über ihn, wäre ich dazu nicht in der Lage.“
Natürlich, dachte ich. Was wie ein radikaler Abschied von Hemingways Eisberg geklungen hatte, war es in Wirklichkeit nicht. Diese „Hohlräume“ sind notwendig beim Schreiben. Und ihre Ergebnisse wirken weit über das Buch hinaus.
Ulin ist kein umständlicher Schriftsteller. Er sagte mir, dass er das Buch weder doktrinär noch themengetrieben gestalten wollte. (Obwohl ich nicht umhin konnte, gewisse Ähnlichkeiten der Hauptfigur mit ihrem schlecht sitzenden blauen Anzug einschließlich der zu langen roten Krawatte und einem Kerl aus dem richtigen Leben zu erkennen, der sich, obschon nicht unbedingt metaphysischer Solipsist, dennoch mit Beratern umgibt, die kein Problem damit haben, „alternative Fakten in die Welt zu setzen“.)
Ulins Erzähler erinnerte mich allerdings noch mehr an das, was die Pop-Psychiatrie, die alle Ecken und Winkel der amerikanischen Kultur durchdrungen hat, fast jeden Tag so von sich gibt, nämlich „ganz in der Gegenwart zu leben“, „für den Augenblick“.
Sicherlich hat eine solche Geisteshaltung ihre Zeit und ihren Ort. Und sicherlich hat sie auch ihren Nutzen – vor allem dann, wenn ich in den Schlaf finden möchte, mich dann aber Ängste wegen der Expansion des Weltalls oder eines tropfenden Wasserhahns umtreiben, den ich reparieren muss.
Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob der Rat, doch „ganz in der Gegenwart zu leben“, „für den Augenblick“, so verschieden ist von der Umgangsweise des Erzählers in DIE FRAU, DIE SCHRIE mit den Gräueltaten, die er begangen hat: „Man musste alles bremsen, jede Handlung Schritt für Schritt vornehmen, sich nur auf das konzentrieren, was vor einem lag, musste aufhören, zu denken und dort zu sein, wo man war.“ Wenn der Erzähler sagt: „Es spielt keine Rolle, wer wir waren oder wer wir sein werden, nur, wer wir sind“, kann ich mir diese Worte unschwer als fröhlichen Schriftzug auf einem Kaffeebecher prangend vorstellen.
Vor etlichen Jahren durchlief ich eine obsessive Phase, in der ich wieder und wieder die englische Übersetzung von Marguerite Duras’ Novelle Hiroshima mon amour (1960) las und das Drehbuch mit den englischen Untertiteln verglich. In einem von ihnen wurde das Wort „vergessen“ verwendet, in einem anderen das Wort „ausgelöscht“. (Ich bin schnell fasziniert.) Schließlich gelangte ich zu dem Schluss, dass die einzige Möglichkeit für ein Ding, eine Person oder ein Ereignis, wahrhaft ausgelöscht zu sein – verschwunden, als hätte dies alles nie existiert –, darin bestand, vollkommen vergessen zu sein.
Wenn unsere Geschichten aufhören, erzählt zu werden, wenn sie zum Schweigen gebracht und schlussendlich verloren sind, gleichen sie den Kojoten, die der Erzähler von DIE FRAU, DIE SCHRIE beobachtet: „Ein Beutejäger ist immer leise, wenn er sich heranpirscht. Das verlieh ihnen solche Macht.“
Übersetzung von Peter Hammans