Etwas Wirkliches erzählen

Ein Nachwort von Günther Grosser
©Max Soklov/Adobe Stock

Vielleicht traut Ron Corbett dem linearen Erzählen nicht, dieser einen Geschichte, die wie die nackte Zeit wirkt, wie der reine klare ununterbrochene Verlauf. (Aber wir wissen ja, einem Witzbold zufolge ist Zeit bloß deshalb da, damit nicht alles gleichzeitig passiert.) Und vielleicht besteht daher MISSION ROAD, genau wie der Vorgängerroman CAPE DIAMOND, nicht nur aus der großen Leit-Erzählung von einem Diamantenraub und seinen Folgen, sondern auch aus sehr vielen einzelnen Segmenten, aus den unterschiedlichsten Geschichten, die sich überlappen, ineinander übergehen, aufeinander verweisen, sich ergänzen und erst so die wirkliche Erzählung ausmachen.
Und vielleicht traut er diesen einzelnen Geschichten auch eher zu, etwas Wirkliches zu erzählen, weil unsere Welt, unsere Leben auch diese Form haben: der Gang zum Laden, zehn Minuten, da ist dieser komische Typ, der sich mit der Verkäuferin an der Käsetheke herumstreitet wegen irgendwas; dann die Nachbarin auf dem Nachhauseweg, hatte sie nicht einen Unfall gehabt vor zwei Jahren mit dem Fahrrad? Ihre Tochter hat gerade das Abitur bestanden und fährt jetzt nach Australien; Australien, da war doch Adam letztes Jahr, dem im Outback alles geklaut wurde und der auf dem Konsulat dann ewig brauchte; dann ruft der Sohn an, er muss zum Arzt, das verstauchte Handgelenk beim Fußball neulich … und so weiter. Sechs Geschichten in zwei Stunden, die Segmentierung dessen, was dann als Ganzes ›das Leben‹ heißt.
Und mehr noch: Diese Erzählweise ist nicht nur die Struktur des Lebens, sondern auch das Erzählprinzip der großen Epen, der Odyssee, der Illias, der Edda und der Bibel: Geschichte aus Geschichten. Und hier kommt der Zusammenhang von Story und History ins Spiel, das Historische. Die Segmente, die einzelnen Geschichten von Ron Corbetts Reihe um Frank Yakabuski sind allesamt historische Erzählungen; es sind die biografischen Geschichten der Figuren, die sozialen Entwicklungsgeschichten des Landes, die evolutionären Geschichten der Natur. Da ist Yakabuskis Geschichte vom Polizistensohn – und hier bekommt alles eine weitere Tiefe, denn Vater George hat im Vorgängerroman CAPE DIAMOND seine eigene Cop-Geschichte – über die Zeit beim Militär, die Kriege in Bosnien und in Afghanistan, dann der Geheimdienst und schließlich Polizeiarbeit oben im Norden mit den (inzwischen vier) Romanfällen. Da ist die Geschichte von Bobby Bangs, einem aus einer ganzen Reihe von großen Gegenspielern Yakabuskis: in einer kleinen Hütte in Armut aufgewachsen, eines von dreizehn Kindern einer irischen Familie, Knochenarbeit im Wald schon mit acht Jahren, bis er eine Waffe im Unterholz findet und weiß, was sie für ihn bedeuten kann; und er wird es damit nicht nur zu einem der gefürchtetsten Gangster der Northern Divide, sondern zum mythischen Folklorehelden bringen, dem man sogar Lieder und Balladen widmet. Da ist die Geschichte von Sean Morrissey: Sohn einer alten Shiner-Familie, Juwelendieb, Gangster, der aber nicht so recht taugt für diese Rollen; da ist die der skrupellos-dümmlichen Watkins-Brüder, und so weiter bis hin zu den kleinsten Nebenfiguren, die ebenfalls noch breite Biografien bekommen.

Und weil wir es in MISSION ROAD mit einer Geschichte voller Habsucht und Gewalt zu tun haben – was tut man nicht alles für eine Milliarde und mehr! –, streut Corbett noch ein paar kurze Parabeln über das Wesen der Gier ein, von dem sechzehnjährigen etwa, der einen Gleichaltrigen wegen eines iPods ersticht, oder von der Frau, die ihren Mann für das Geld dreier Lebensversicherungen umbringt oder von dem Finanzplaner, einem Schlaumeier, der alle und jeden inklusive der Strafverfolgungsbehörden und des Hohen Gerichts tränenüberströmt belügt, ein paar Jährchen absitzt und schließlich mit seiner Beute grinsend auf den Bahamas verschwindet. Bloß damit wir nicht vergessen, wozu unsere Mitmenschen so in der Lage sind, wenn wir nicht aufpassen.

Zu diesen individuellen Biografien kommen immer wieder die historischen Erzählungen der sozialen Verbände und Gruppen und die Geschichten von der langsamen Entwicklung der Northern Divide und von der »Entdeckung« und Eroberung Kanadas durch die neugierigen Weißen von der anderen Seite des großen Ozeans. Aus den frühen Siedlern, Jägern und Holzfällern entwickeln sich Gruppen und Grüppchen, die North Shore Travellers etwa, die Corbett in CAPE DIAMOND so einführt: »Sie waren eines der größten Rätsel der Northern Divide … Gypsies, die anderen Gypsies Angst machten, die in Pferdewagen mit schwarzen Flaggen herumreisten, im 17. Jahrhundert mit Expeditionen aus Frankreich gekommen waren. Fast zwei Jahrhunderte lang setzten die Pelzhändler sie als Guides, Kundschafter und Trapper ein und wenn Not am Mann war, auch als Privatmiliz zum Schutz der Felle.« Jetzt bilden sie eine der gefährlichsten Gangstergruppen in Springfield, Ron Corbetts sozialem Mikrokosmos, der fiktiven Grenzstadt am Rande der großen Wildnis des kanadischen Nordens.
Und mit diesem Amalgam aus Mythos und historischen Fakten malt Corbett dann auch die großen Gegenspieler der Travelers, die Shiners, »irische Tagelöhner, die nicht mehr nach Hause kamen, wegen der Wirtschaftskrise der 1830er Jahre keine Arbeit fanden« und sich um ihren Anführer Peter Aylin herum zu gefährlichen Banden zusammenschlossen, Holzfällercamps ausraubten, Bauholzlager in Brand steckten und die Gegend terrorisierten. »Es waren finstere Zeiten in der Northern Divide.« Anderthalb Jahrhunderte später gehört ihnen ein berüchtigtes Viertel in Springfield und wenn es nötig wird, lassen sie die Fetzen fliegen. Diamanten im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar wollen sich natürlich die Shiners nicht entgehen lassen.
»Die Shiners hat es übrigens wirklich gegeben; die Travellers habe ich (größtenteils) erfunden«, so Ron Corbett in einem Interview, das auf der Homepage des Polar-Verlages zu finden ist.
Die mysteriöseste und damit interessanteste Figur der beiden Romane allerdings braucht keine breite Vorgeschichte, für Cambino Cortez reichen ein paar simple biografische Notizen – Sohn einer steinreichen Familie aus Heroica an der mexikanisch-texanischen Grenze, eiskalte Männer, die es mit Skrupellosigkeit und der »Macht, verschwinden zu können« zu Reichtum und Einfluss gebracht haben – denn Cambino Cortez lebt ganz im Hier und Jetzt, er gibt der Geschichte vom großen Diamantenraub eine seltsame Geschmacksnote und eine irritierende Rätselhaftigkeit.
In CAPE DIAMOND zieht er eine Blutspur durch das Herzland der Vereinigten Staaten, und bis zum Ende des Romans fragen wir uns, was ihn so magnetisch nach Norden zieht, dass er über viele Leichen geht. Kurz hebt Corbett schon früh den Schleier: Zwei Männer aus dem Norden »haben sich unabhängig voneinander mit demselben Plan an ihn gewandt. Jeder wollte den anderen übers Ohr hauen und umbringen.« Da fällt der Schleier wieder. Wer? Wen? Das erfahren wir später, viel später, in MISSION ROAD.

Mit Cambino Cortez kommt im Übrigen eine Figur, ein Profi in die Geschichte, der den Bezugsrahmen des Menschlichen zu verlassen scheint, der über Fähigkeiten und Wissen verfügt, die sonst nur anderen zugänglich ist, den Figuren aus dem mythischen Raum des menschlichen Erzählens, großen Helden der Archaik wie Odysseus oder Halbgöttern wie Herkules. Cambino steht über den gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten, er weiß bereits, wo wir lediglich eine Ahnung haben, er hat bereits alle Register gezogen, wenn wir noch zögern, er agiert schon, wenn wir noch über Möglichkeiten nachdenken. Denn Cambinos Handeln ist bestimmt von einer Variante des Professionalismus – und die verschiedenen Arten des professionellen Handelns sind ein weiteres Thema in Corbetts Romanen – die aus dem Bereich des Gesetzlosen kommt, aus der Arena des Asozialen, wo die radikale Selbstbestimmung zugleich die allergrößte Verwundbarkeit bedeutet. Schutz bieten da nur Können, Wissen, Mut und rücksichtsloses Handeln.
Yakabuski hingegen ist der Profi des Legalen, er verteidigt die soziale Ordnung und das Gesetz, er muss effizient sein, aber sein Handlungsrahmen ist beschränkt. Sein Arsenal der Professionalität stammt aus den Organisationen der Ordnung und aus der Konfrontation mit dem Bösen: Militär, Geheimdienst und Polizei gegen Krieg, Terror und Verbrechen. Daher stammen sein Können, sein Wissen und Mut. Und rücksichtsloses Handeln hat er durch konsequente, mutige Präsenz ersetzt: Cambino ist nie zu sehen, Yakabuski immer.
Und so schnurrt die Geschichte vom großen Diamantencoup oben im Norden, an der Northern Divide, auch hier, wie so oft in den US-amerikanisch geprägten Varianten des Genre-Erzählens, letztendlich zusammen auf die Konfrontation dieser beiden Repräsentanten des Profitums. Beide wissen, dass es so kommen musste, beide halten es für Schicksal – und beide wissen nicht, wie es enden wird. »Und wenn es zwei Menschen bestimmt ist, sich zu begegnen? Dann weiß später vielleicht nur einer davon. Ja – wem gehört dieser Moment?« Wir haben da zwar bereits eine Ahnung, aber es kommt dann doch anders.