Ein europäischer Kriminalroman

Ein Nachwort von Sonja Hartl
©Max Soklov/Adobe Stock

»Hast Du mal darüber nachgedacht, warum gerade Du hier sitzt?« Diese Frage spricht Amirs Zellengenosse Rabah aus. Eine Frage, über die Amir auch nachgedacht hat, der er aber nicht nachgeben wollte. Und eine Frage, die man beim Lesen unweigerlich im Kopf hat. Denn die Antwort ist erschütternd: Amir sitzt in dem französischen Gefängnis nicht einfach, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Das waren seine Freunde auch. Aber Manfred Halvarsson, Fredrik Cederbeck und Carl Ludwig Bergenrud haben keine Eltern, die aus dem Irak nach Schweden geflohen sind. Sie sind nicht in einem Viertel mit hoher Kriminalität aufgewachsen, wodurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie mit Vorbestraften oder Verdächtigen in Kontakt standen. Sie sind allein aufgrund ihrer Namen und Herkunft weniger verdächtig.

Sicherlich gibt es – in Amirs Fall – weitere Indizien: Er trug ähnliche Kleidung wie die vermeintlichen Attentäter und hatte einen Rucksack dabei. Aber wer war nicht schon einmal in Jeans in einer Bar? Die traurige Wahrheit: Egal wie gut sich Einwander*innen aus bestimmten Regionen der Welt integrieren – im Zweifelsfall werden sie immer »die Ausländer« sein. Nicht die Frederik Cederbecks dieser Welt, die allenfalls »die Schweden« sind. Aber die Amir Yasins, die so viel leisten können, wie sie wollen. In einer rassistischen Gesellschaft zeigt sich Rassismus überall.

Wie steht es um den Rechtsstaat in der EU?

Erstaunlich ist: Dennoch vertraut Amir anfangs darauf, dass sich alles aufklären wird, sobald die französischen Behören herausfinden, dass er Schwede ist. »Ist das nicht typisch schwedisch?, wird er sich später fragen. Solch ein Vertrauen in staatliche Autoritäten zu haben?« Vielleicht. Sein Freund Manfred teilt dieses Vertrauen – der blasse 35-Jährige mit Lehrauftrag für Zivilrecht will Amir helfen. In Frankreich schon will er zur Polizei, um alles aufzuklären. Er ist überzeugt: »Aber wir sind doch schließlich nicht in der Türkei oder in Russland. Wir sind in Frankreich. Einem Rechtsstaat. In einem zivilisierten Land mit zivilisierten Bürgern. Die sind als Mitglied der EU an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden!«

Aber das reicht nicht aus, das wird sich in Malin Thunberg Schunkes EIN HÖHERES ZIEL schnell zeigen. Ihr Kriminalroman dreht sich nicht nur um Rassismus und Terrorismus. Vielmehr steht eine spannende, hochaktuelle Frage im Mittelpunkt: Wie steht es um den Rechtsstaat in der EU? Malin Thunberg Schunke hat als Staatsanwältin in Schweden gearbeitet und in London internationales Strafrecht studiert. Außerdem hat sie ein juristisches Fachbuch geschrieben. »In dem Buch gehe ich der Frage nach, wer eigentlich die Verantwortung für den Schutz der Rechte der Verdächtigen trägt, wenn mehrere Staaten gemeinsam über die Grenzen hinweg in Verbrechen ermitteln«, erzählt sie im Interview. »Ich habe festgestellt, dass jeder von uns bei Strafverfahren im Ausland, auf sich gestellt, in ernste Schwierigkeiten geraten kann.« Das Thema ließ sie nicht los. »Nachdem das Fachbuch veröffentlicht wurde, habe ich weiter über die menschlichen Schicksale in grenzüberschreitenden Fällen nachgedacht.«

Im Buch ist es Amir, der in Frankreich unter Terrorverdacht gerät. Der Handlungsort ist klug gewählt. Frankreich ist das Land, das an der Seite Deutschlands steht, um die »europäischen Werte« zu verteidigen. Noch. Doch was sind diese Werte? Was bedeutet ein Rechtsstaat, wenn ein einzelner Mensch – wie der Richter Philippe Duvernoy in diesem Roman – mit so vielen Befugnissen ausgestattet ist?

Er personifiziert eine der vielen Hürden auf dem Weg zu einer Vereinheitlichung des Strafrechts und der Strafverfolgung: Die Länder in der EU haben zum Teil sehr unterschiedliche rechtsstaatliche Traditionen. Traditionen, die bis heute Bestand haben. So ist zum Beispiel der Untersuchungsrichter in Frankreich Leiter eines Ermittlungsverfahrens. »Mit dieser Position ging nicht nur die Verantwortung für die Aufklärung der kompliziertesten Verbrechen einher, sondern auch eine weitreichende Macht, Zwangsmaßnahmen für Tatverdächtige zu beschließen.« Aus deutscher Sicht klingt es, als wären Richter und Staatsanwalt eine Person, als gebe es keine Grenze zwischen Exekutive und Judikative. Wer aber gewährleistet hier eine rechtsstaatliche Kontrolle?

Dazu kommt: Duvernoy ist Leiter einer Spezialeinheit für die Aufklärung von Terrorverbrechen. Nach dem 11. September 2001 hieß es vielerorts, man dürfe sich von den Terroristen nicht einschüchtern lassen. Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin hieß es, jetzt müsse man erst recht Weihnachtsmärkte besuchen. Tatsächlich aber wurden seither viele Freiheiten und strafprozessuale Rechte eingeschränkt. »Personen, die verdächtigt werden, eine Terrortat begangen zu haben, können z.B. länger in Untersuchungshaft gehalten werden, das Recht auf einen Anwalt kann in gewissen Fällen hinausgezögert werden und besonders avancierte Ermittlungsmethoden werden erlaubt. Der Schutz der Gesellschaft vor Terrortaten kollidiert hierbei manchmal mit dem  Recht auf ein faires Verfahren«, sagt Malin Thunberg Schunke.
Tatsächlich verletzten einige von Duvernoys Anordnung das gesunde Rechtsempfinden. Dazu sind viele Menschen bereit, im Namen vermeintlicher Sicherheit weitere Einschränkungen hinzunehmen. Dadurch kommt es zu einer teilweisen Erosion des Rechtsstaats. Die Auslagerung von Asylverfahren in Nicht-EULänder ist nur ein Beispiel. Wiedereingeführte Grenzkontrollen ein zweites. Doch wohin wird das führen?

Auftakt einer Reihe

Die Frage, die Rabah im Gefängnis ausspricht, ist aber noch mehr: Sie ist eine gefährliche Saat in Amirs Gedanken. Eine Saat, die möglicherweise in den weiteren Bänden dieser Reihe aufgehen wird. Dass EIN HÖHERES ZIEL der Auftakt einer Reihe ist, ist offensichtlich: Mit Esther Edh und Fabia Moretti hat Thunberg zwei Hauptfiguren entwickelt, in deren Biographien es ausreichend Fragen gibt, die in den folgenden Teilen beantwortet werden könnten. Warum wird Fabia Moretti so schweigsam, wenn es um bestimmte Aspekte ihrer Vergangenheit geht? Und was passiert mit dem Liebhaber von Esther Edh?

Thunberg Schunke untersucht – in guter schwedischer Krimi-Tradition – den Zustand der Gesellschaft. Die Gesellschaft endet bei ihr aber nicht an Landesgrenzen, sondern sie blickt nach Europa: Esther Edh und Fabia Moretti arbeiten bei Eurojust – eine nur wenig bekannte europäische Ermittlungsbehörde, die es tatsächlich gibt. Seit 2002 koordiniert die »Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen« grenzüberschreitende Strafverfahren auf europäischer Ebene und fördert den Informationsaustausch zwischen nationalen Justiz- und Polizeibehörden. Jedes Mitgliedsland entsendet Vertreter – Staatsanwälte oder Richter –, die in einem Gebäude in Den Haag sitzen. Im Prinzip ist Eurojust für Staatsanwälte und Richter, was Europol für die Polizei ist. Ihre Arbeitsbereiche sind neben Terrorismusbekämpfung Waffenhandel, Drogenhandel, Menschenhandel, Kinderpornographie und Geldwäsche. Selbst ermitteln dürfen sie nicht. Sie dürfen beraten, unterstützen, vermitteln und koordinieren. Sie verfügen über viele Informationen, die sie bei Bedarf schnell und direkt zur Verfügung stellen können. Denn eines darf man nicht vergessen: Es gibt kein europäisches Strafprozessrecht. Kein europäisches Strafgericht. Es gibt keine europäische Strafgerichtsordnung. Stattdessen viele unterschiedliche Gesetzgebungen in den Mitgliedsländern. Das bedeutet beispielsweise, dass bei einer EU-weiten Razzia unterschiedliche Reglungen zu Hausdurchsuchungen eingehalten werden müssen.

Aber auch die Arbeit von Eurojust hat Grenzen – wie sich in EIN HÖHERES ZIEL zeigt. Dennoch liegt in dieser Behörde für fiktionale Literatur viel Spannungspotential:
Verbrechen sind längst international geworden – und die Ermittlungen auch.

EIN HÖHERES ZIEL wirft einen genauen Blick auf den europäischen Rechtsstaat – aber das Buch gibt nicht vor, auf alle Probleme eine Antwort zu kennen. Vielmehr macht es deutlich, dass es bei dem Schutz von Einzelnen innerhalb von Ermittlungsverfahren noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt. »Das ist momentan besonders wichtig, weil es in der Welt gerade eine politische Tendenz Richtung populistischer und repressiver Gesetze gibt. Wir müssen deshalb immer die Gefahr für die Rechtssicherheit im Blick behalten«, meint Thunberg Schunke. Tatsache ist zudem: Das Grundgesetz, die Europäische Menschrechtskonvention, der Rechtsstaatsmechanismus und der Internationale Strafgerichtshof sind mächtige Werkzeuge. Aber das mächtigste Werkzeug nützt nichts, wenn man es nicht einsetzt. Und zwar für die Freiheit aller Menschen.