Lagebild in Noir

Ein Nachwort von Ulrich Noller
©Max Soklov/Adobe Stock

Wo waren Sie eigentlich, als das World Trade Center einstürzte? Also, am 11. September 2001, an Nine Eleven? Die ikonischen Bilder der Attentate in den USA an diesem Tag haben sich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Und mit ihnen diese Frage, die im Grunde genommen alljährlich durch die Sphären des kollektiven Bewusstseins changiert: Wo warst Du, als sich diese Zeitenwende ereignete? Eine Frage jedenfalls, auf die fast Jede/r eine Antwort hat.

Ob die Ereignisse des September 2001 tatsächlich eine Zeitenwende markieren, darüber kann man natürlich streiten. Möglicherweise ist das ja eine eher westlich geprägte Sichtweise, dieser Blick aufs vermeintliche Ende vom Ende der Geschichte, was für eine Illusion! Auf jeden Fall aber hatte der Tag eine globale Wirkung; bis hin zu den Konflikten und Eruptionen, die seitdem Politiken und Gesellschaften prägen. Anderswo war diese Gewalt, die hinter derartigen Ereignissen lauert, ja nie verschwunden, sondern bloß nicht so ikonisch sichtbar.
Genau darum geht es aber: Die unfassbare, teils archaische Gewalt, die die Macht hat, uns für einen Moment inne halten zu lassen und später diesen Moment zu erinnern. Sie ist essentiell, ein Teil des Menschseins; manchmal aber wird sie nicht bloß sichtbar, sondern spürbar. So, als wäre dieser eine spezielle Akt des Terrors ein einzigartiger, historischer, prototypischer Moment. Dabei war und ist diese Gewalt immer da, es gibt ein Vorher und ein Nachher, sie ist ein Prozess. Und ein Ringen: Die vermeintliche Unmenschlichkeit der grausamen Willkür im Gegensatz zur vermeintlichen Menschlichkeit, die bestrebt ist, diesen menschlichen Anteil der Gewalt mit Regeln und Gesetzen einzuhegen.

Entsprechend gibt es natürlich viele weitere Beispiele, die man nennen könnte. Zuletzt etwa die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine, die als »Massaker von Butscha« in die Zeitgeschichte eingegangen sind. Oder die »barbarischen Angriffe« der Hamas auf Israel am 7. Oktober, auch ein Datum, das haften bleiben wird. Oder der Blick auf die Foltergefängnisse in Syrien nach dem Sturz von Diktator Assad im Dezember 2024. Ikonische Akte des Terrors in unterschiedlichster Ausprägung, die auch deshalb auf einer anderen Ebene dann doch einen besonderen Moment im Lauf der Dinge und im Prozess der menschlichen Gewalt darstellen, weil hier die individuelle Grausamkeit der Gewalt auf verschiedene Weise und unter verschiedenen Umständen besonders deutlich wird. Das Prinzip und die Strukturen. Das, was ansonsten weitgehend im Zaum gehalten wird und auf kleinerer und spezifischerer Ebene sichtbar wird, Krimi-Leser:innen wissen, was gemeint ist.

Und wo waren Sie am 26. September 2014? Das war der Tag, an dem nahe der Stadt Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero mehrere Busse mit Studierenden, die zu einer Demonstration in die Hauptstadt unterwegs waren, in einen Hinterhalt gelockt und beschossen wurden. Einige Personen starben direkt, Dutzende andere wurden »festgenommen«, also faktisch: entführt. Die meisten von ihnen sind seitdem verschwunden, einige wurden tot aufgefunden, nur notdürftig verscharrt. Es gab im Lauf der Jahre fragwürdige Ermittlungen, sogar einige Verhaftungen und Verurteilungen. Tatsächlich aufgeklärt wurde dieses Verbrechen, dieser spezielle Akt des Terrors nie. Dieser Akt – noch so ein spezifischer Moment, der einen inne halten ließ auf der Suche nach Erklärungen, nach einem Sinn der Gewalt, als seine Dimension langsam in die Weltöffentlichkeit durchsickerte: Wer tötet »einfach so« mehrere Dutzend Studierende? Menschen also, die am Anfang ihres Lebens stehen, die zu viel noch nicht erlebt haben, die unschuldig sind, wenn man so will. Die eigentlich nur eines wollen: Ein Leben. Gut, das wollen alle – aber diese Menschen, das waren doch im Prinzip noch Kinder …

Meistens geschehen Terrorakte nicht »einfach« so, sie haben einen perversen Sinn, ein Ziel, das sie erreichen oder zumindest kommunizieren sollen. Und auch das macht den Blick auf diesen einen Terrorakt in Mexiko so besonders erschütternd: Es existiert nach wie vor keine plausible und schlüssige Erklärung dafür. Nichts woran man sich abarbeiten könnte. Kein Verstehen. Kein »Sinn« – um so deutlicher das Perverse. Klar, es gibt Möglichkeiten, schließlich existiert auch eine Realität, in deren Rahmen das Ganze stattgefunden hat: die Realität (und die Brutalität) der rivalisierenden Drogenkartelle und der teils mit ihnen verstrickten Institutionen. Aber selbst, wenn man diese Realitäten mit einbezieht, findet man immer noch keine hinreichenden Antworten. Dieses Warum? macht diesen Akt der Grausamkeit selbst für mexikanische Verhältnisse, aber auch darüber hinaus zu einem besonderen. Also: zu einem besonders perfiden.

Genau da setzt J. Todd Scott mit seinem Roman DIESE SEITE DER NACHT ein. Das ist sein Verdienst. Und zwar in mehrerlei Hinsicht. Da ist die persönliche Ebene: Selbst Scott, der das Grauen des Drogenterrors aus seiner Arbeit als Ermittler kennt, hat dieser spezielle Akt des Terrors sprachlos gemacht, er musste also eine Sprache dafür finden, um die Geschehnisse verarbeiten zu können. J. Todd Scott bedient sich der Mittel der Kunst, um diese Sprache und mögliche Antworten zu finden, der Akt des Schreibens und des Herstellens dieser Kunst ist per se schon eine Art der Antwort: DIESE SEITE DER NACHT füllt die Leere der offenen Fragen, und der Roman nutzt diesen Raum, um nicht weniger zu sein als: ein Gegengewicht zur Grausamkeit des Terrors. Und drittens geht der Verfasser damit den einzigen Weg, der möglich ist, wenn es keine Antworten und keinen Sinn gibt: Er sucht Sinn und Antworten, indem er der Frage nachgeht, was das eigentlich für eine Gesellschaft ist, in der so ein Ereignis möglich ist. Genauer: Was ist das für eine Gesellschaft, die solche Gewalt, die solchen Terror produziert?

Der Kapitalismus hat viele Gesichter, Erscheinungen und Wirkweisen, auch positive – hier zeigt er sich in seiner hässlichsten und brutalsten Fratze, der des Geschäfts mit den Drogen; Rebranding und Strukturreformen hin oder her. Die staatliche Ordnung ist porös und instabil, hier im Kleinstädtchen hat sie noch die Kraft zu halten, aber schon dort, einen Landkreis weiter, ist im Prinzip alles verloren. Die Populisten, speziell die mit dem Rassismus im Gepäck, sie finden hier ihren Nährboden und sie drängen, aber sie gewinnen nicht unbedingt – noch nicht? Grenzen, das ist auch noch wichtig, sind in dieser Gesellschaft fragil, und sie sind entscheidend; das betrifft Grenzziehungen in jeder Hinsicht, auch innerlich. Immer wieder, eigentlich dauernd, müssen Entscheidungen getroffen werden, auch solche, die besonders weh tun, um Grenzen zu überwinden, die überwunden werden müssen, wenn man überleben will. Migration ist ein Geschäft, mitunter ein tödliches; aber sie ist auch eine Normalität, der die eine oder der andere mit Anstand begegnet, letztlich eine Selbstverständlichkeit. Und die Helden, die es braucht, damit vielleicht doch noch mal alles gut geht, sind postheroische Helden: Sie sind verletzt, gebrochen, vernarbt, aber sie treffen ihre Entscheidung, Grenzen zu überwinden, im Sinne des Guten. Dies Gute, der Gegensatz zum Korruptions-, Gewalt-, Drogen- und Profitverderbten, es hat vor allem eine Kraft: die des Anstands. Mehr gibt es nicht, die großen Narrative haben erstmal ausgedient, neue sind noch nicht in Sicht – aber mehr braucht es erstmal auch nicht: Der Anstand der verletzten Helden ist in dieser Geschichte der der Sieger. Und der Siegerinnen. Bis auf Weiteres.

Was also ist das für eine Gesellschaft? Es ist nicht die mexikanische oder die amerikanische Gesellschaft, wenngleich diese beiden bestimmte Spezifika und Charakteristika aufweisen, die manches von dem, was in dieser Geschichte geschieht, möglicher scheinen lässt als anderswo. DIESE SEITE DER NACHT aber greift tiefer oder weiter, der Roman transportiert eine universelle Ebene, denn letztlich ist es unser aller, ist es die Gesellschaft, um die sich alles dreht – und zu der J. Todd Scott mit den Mitteln seiner Kunst ein Lagebild erstellt: ein literarisches Lagebild in Noir. Noir, das bedeutet vor allem: Kein Grund für Optimismus, erfahrungsgemäß wird sich nichts zum Guten wenden. Bis auf Weiteres, wie gesagt. Immerhin aber ist da doch ein Schimmern von Hoffnung. Dafür stehen die, die überlebt haben. Die, die entkommen sind. Insbesondere die »Tochter« des Bösen. Und vor allem die beiden aus dem Bus.