Ist das Leben nicht schön?

Ein Nachwort von Marcus Müntefering

 

©Max Soklov/Adobe Stock

Der Song »Small Town« stammt aus dem Jahr 1985, von »Scare-crow«, dem fünften Album des amerikanischen Folk- und Rockmusikers John Mellencamp. Der Sänger, so amerikanisch wie Baseball und Hamburger, beschwört darin das Leben in einer archetypischen US-Kleinstadt. Es ist ein Hohelied auf Dinge wie Einfachheit, Gemeinschaftssinn, Naturverbundenheit, Nachbarschaft. Hier gehört man hin, hier ist man aufgehoben, hier lebt und stirbt man. Voller Stolz ist dieser Song, aber auch ein bisschen nostalgisch, als wisse Mellencamp darum, dass diese Idylle in Gefahr ist (oder längst schon ein Wunschbild).

 

Knapp vierzig Jahre später erscheint mit TIEFER WINTER von Samuel W. Gailey ein Roman auf Deutsch, der gnadenlos aufräumt mit den Illusionen von Small Town, USA, der Keimzelle des Guten in der amerikanischen Gesellschaft. In Wyalusing, Pennsylvania, geht es nun wirklich nicht zu wie in Frank Capras filmischer Liebeserklärung an die Kleinstadt und ihre Bewohner, den Weihnachtsklassiker »Ist das Leben nicht schön?« aus dem Jahr 1941. Der Film basiert auf einer Geschichte des Schriftstellers Philip Van Doren Stern, »The Greatest Gift«, und sein Autor lebte ausgerechnet in Wyalusing – aber sollte der Ort jemals nur irgendeine Ähnlichkeit mit der Welt aus der Kurzgeschichte und Capras Film gehabt haben, ist davon Mitte der Achtziger, der Zeit, in der Gaileys TIEFER WINTER spielt, nicht mehr viel übriggeblieben. Der Roman ist eine Art Anti-Capra, auch wenn Gailey, wie er im Interview mit dem Polar Verlag verriet, gar nicht wusste, dass »Ist das Leben nicht schön?« seinen Ursprung in derselben Gegend hat, aus der auch er stammt.

Die Small Town, das ist in der amerikanischen Literatur, Popmusik und im Kino auch immer der Traum von einem andern Leben jenseits der Großstadtmoloche gewesen, jenseits der Kriminalität, jenseits der Ambivalenz. Hier sind Nachbarn nicht nervig, sondern gut und hilfsbereit, hier haben Gier und Gewalt keine Chance – und wenn es sie doch mal geben sollte, sind sie eine Abweichung von der Norm und werden am Ende besiegt, siehe Frank Capra und Stern.

Aber natürlich gab es auch schon immer die Autoren, die hinter die Kleinstadtfassaden geblickt haben, dort, wo der amerikanische Traum in Gefahr ist oder sich gar längst in einen Albtraum verwandelt hat. Das gilt für William Faulkner und Flannery O’Connor ähnlich wie für Richard Russo und Daniel Woodrell. Vor allem aber trifft es auf Larry Brown zu. Der 2004 mit nur 53 Jahren verstorbene Autor lieferte mit seinen Romanen wie »Fay« oder »Joe« so etwas wie die Blaupause, auf der auch Samuel W. Gailey schreibt. »Brown hat mir den Weg gezeigt«, sagt Gailey über seine ersten literarischen Gehversuche, die in TIEFER WINTER resultierten.

Wie Brown entwirft auch Gailey in seinen Romanen eine düstere Vision vom Leben in den ländlichen Regionen der USA, wo die Menschen mit Armut, Sucht und ihrer eigenen Zerrissenheit kämpfen. Mit einem entscheidenden Unterschied: Während Browns literarische Heimat der Süden war, stammt Gailey aus dem Norden. Aber, wie man bei der Lektüre schnell feststellt, die Menschen haben überall die gleichen Sorgen und Schwierigkeiten, Nöte und Abgründe.

Gailey schreibt Romane voller Gewalt und Verbrechen, klassische Kriminalromane sind es dennoch nicht. Er ist auch kein Experte, was Krimis angeht, hat weder Michael Connellys »Bosch«-Bücher noch andere moderne Klassiker des Genres gelesen. Die genreübliche Dynamik von Mord und Aufklärung, langwierige Ermittlungsarbeit, das alles interessiert ihn nicht. Vielleicht, wenn man denn ein Label braucht, kann man seine Romane Country Noir nennen. Und damit wäre er in bester Gesellschaft im Polar Verlag, wo viele Autoren und Autorinnen einen Platz finden, die sozusagen zwischen den Stühlen schreiben, und die in Deutschland sonst kaum eine Chance hätten, veröffentlicht zu werden. Das gilt für Chris Harding Thornton (»Pickard County«) ebenso wie für Scott Blackburn (»Es stirbt mit dir«), Eryk Pruitt (»Das schnelle Leben«) und viele andere.

Wer ihre Romane liest, der entwickelt ein tiefes Verständnis davon, wie die USA jenseits der Metropolen funktionieren (oder eben nicht) – und letztlich auch davon, wie es sein kann, dass ein durchgeknallter, rechtsradikaler Politclown wie Donald Trump in den sogenannten Flyover States einen derartigen Zuspruch erhält. Apropos Trump: Dessen Running Mate bei den US-Wahlen im vergangenen Jahr (zum Zeitpunkt als dieser Text entstand, waren die Wahlen noch nicht entschieden), J.D. Vance, erregte 2017 mit seiner Autobiografie »Hillbilly-Elegie« weltweit Aufmerksamkeit, weil das Buch angeblich zeigte, wie die amerikanische Landbevölkerung wirklich tickt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat es gar zu Tränen gerührt, und ihm, wie er einmal sagte, zu einem tieferen Verständnis für die Notwendigkeiten sozialdemokratischer Politik im 21. Jahrhundert verholfen. Dem kann man eigentlich nur eines erwidern: In jedem Kapitel, ach was: in jedem Satz von Samuel W. Gaileys TIEFER WINTER steckt mehr Realität, Authentizität und echte Emotionalität als in 300 Seiten Vance. Lies das, Olaf!

TIEFER WINTER ist ein Erstlingswerk, in den USA ist der Roman bereits 2014 erschienen. Und man merkt diesem Buch an, dass der Autor sich die Geschichte aus der Seele gerissen hat und dass er ganz genau kennt, worüber er schreibt. Gailey war schon Ende Vierzig, als der Roman auf den Markt kam, ein später Start für einen Schriftsteller. Aber was für einer: In nicht einmal 24 Stunden entspinnt sich eine Geschichte von allergrößter Dramatik; mit der Leiche der Kellnerin Mindy, auf dem Boden eines Trailers liegend, »wie eine weggeschmissene Puppe«, beginnt eine Reihe von Ereignissen, die Gailey schnell turboeskalieren lässt. Ereignisse, die drohen, die Kleinstadt Wyalusing, die irgendwo im Nirgendwo von Pennsylvania liegt, zu zerstören. Gerahmt von einer geschickten Konstruktion mit wechselnden Perspektiven und Zeitebenen schickt Gailey seine Figuren auf eine düstere Reise in die Abgründe dieses Kaffs.

Ein Kaff, das Gailey nur zu gut kennt. Denn hier, in dieser isolierten Gegend, ist er aufgewachsen, und vieles, was er in seinem Roman erzählt, hätte genauso passieren können damals. In seiner Kindheit und Jugend kursierten viele Geschichten von Mord und Selbstmord im Ort, sagt er im Interview.

Auch die Figuren in TIEFER WINTER basieren zum Großteil auf den Erinnerungen an die Freunde und Feinde aus Gaileys Vergangenheit. Danny etwa, der Außenseiter, der, gleichzeitig stark gutmütig, an Lennie Small aus John Steinbecks »Von Mäusen und Menschen« erinnert und unschuldig zum Mordverdächtigen, zum Gejagten wird. Er hieß eigentlich Dave und war ein Schulfreund, der eine Lernschwäche hatte. Und Mike Sokowski, der wohl fürchterlichste Kleinstadtbulle seit Lou Ford aus Jim Thompsons Klassiker »Der Mörder in mir«, basiert auf einem echten Mike, mit dem Gailey zur Schule ging und der ihm zeitweise das Leben zur Hölle machte. Der habe sich nie bei ihm gemeldet, um sich zu beschweren, sagt Gailey: »Ich glaube, jeder dort weiß, dass ich ein Buch über den Ort geschrieben habe. Und den meisten gefällt es, dass einer von ihnen über sie schreibt, selbst wenn die Geschichten so dunkel und schrecklich sind wie meine.«

Dass niemand sich darüber beklagt, in TIEFER WINTER als Vorlage für Fiktion benutzt zu werden, hat sicherlich auch damit zu tun, dass Gaileys Figuren alle so echt wirken,
dass sie dreidimensional sind und vor allem ambivalent. Er stellt sie nicht aus, sondern verleiht ihnen teilweise so etwas wie Würde. Niemand hier ist nur dumm, wütend oder böse. Außer Mike Sokowski vielleicht – aber auch ihm gibt Gailey eine Backstory, die erklärt (wenn auch nicht entschuldigt), warum er so kaputt und jenseits der Hoffnung auf Erlösung ist, die Gailey anderen Figuren durchaus zugesteht. Dem Kleinstadtsheriff Lester Gilley etwa, der in dieser Nacht über sich herauswachsen wird, oder State Trooper Bill Taggart, der am Boden einer Schnapsflasche lebt und dessen moralischer Kompass längst in die falsche Richtung zeigt.

Viele Jahre hat es gedauert, bis Gailey diese sehr persönliche Geschichte endlich aufschreiben konnte. Er machte einen ausgiebigen Umweg auf seinem Weg zum Schriftsteller, arbeite lange Jahre in Hollywood als Drehbuchautor, mit moderatem Erfolg. Er schrieb Drehbücher für TV-Serien und Filme, die meisten davon wurden nie umgesetzt. TIEFER WINTER entstand in einer schweren Zeit für ihn, er hatte mit Suchtproblemen zu kämpfen, war unzufrieden mit sich und seinem Leben. Vielleicht ist es genau das, was den Roman so besonders macht, so dringlich erscheinen lässt. Gailey selbst spricht davon, dass das Schreiben eine Art Katharsis für ihn war. Indem er sich mit seiner eigenen Jugend auseinandersetzte, auch mit seiner eigenen kaputten Familiengeschichte, konnte er den Dämonen in seinem Leben entgegentreten.

Im Roman spiegelt die trostlose, eisige Winterlandschaft Pennsylvanias die inneren Konflikte und Abgründe der Figuren. Die Kälte und Dunkelheit des Winters grundieren die Abgründigkeit der Geschichte und verstärken das Gefühl der Ausweglosigkeit und Isolation. Doch das Wetter – ein Schneesturm zieht auf – verstärkt auch die Dynamik der Erzählung und scheint mit der Ausweglosigkeit der Situation zu korrespondieren. TIEFER WINTER ist von teilweise unerträglicher, sich ständig steigernder Düsterkeit, aber es ist auch ein Buch, dass, fast schon überraschend, auf einer hoffnungsvollen Note endet. Danny wird überleben, und die Ereignisse der letzten 24 Stunden werden viele Einwohner von Wyalusing dazu bringen, über ihr Leben und ihre Verfehlungen nachzudenken, ihr Verhalten zu ändern – zumindest diejenigen unter ihnen, die diese mörderische Nacht überleben.

Für Gailey war das Buch der Start in eine neue, bessere Zukunft. Es dauerte zwei Jahre, aber dann fand er einen Verlag in den USA, ebenso wie in Frankreich, wo amerikanische Noir-Autoren ohnehin ein besseres Standing haben als irgendwo anders auf der Welt, ihre Heimat inklusive. Auch die Kritiken waren vielversprechend, so hieß es zum Beispiel in der New York Times, TIEFER WINTER sei »wunderschön geschrieben, aber verstörend« – ein größeres Kompliment hätte man Gailey wahrscheinlich nicht machen können.

Gailey schreibt weiter, sein zweiter Roman DIE SCHULD aus dem Jahr 2019 erschien bereits Anfang 2024 im Polar Verlag. Er hat zwar streckenweise den finsteren Sound von TIEFER WINTER, aber die Geschichte einer modernen Alice im Wunderland, die mit einer Tasche voller Drogengeld vor Killern flieht, ist dann doch ganz anders. Heiterer, skurriler – und diverser »Ich hatte mit TIEFER WINTER ein Buch über weiße Männer geschrieben«, sagt Gailey, »über Waffen und Whiskey, das wollte ich mit DIE SCHULD nicht wiederholen.«

Inzwischen hat Gailey in den USA einen dritten Roman veröffentlicht: Mit »Come Away With Her« kehrt er zurück nach Pennsylvania, in seine literarische Heimat. Wie heißt es noch so schön in vielen Country Songs: »You can take the boy out of the country, but you can’t take the country out of the boy.« Ein bisschen von dem, wo man herkommt, bleibt immer in einem. Ob man in Wyalusing lebt, in Los Angeles oder auf Orcas Island, Gaileys heutigem Zuhause, tausende Meilen und ein komplettes Mindset weit weg von Pennsylvania und dem mörderischen Mike Sokowski.