Herzschmerz und Abgründe

Ein Nachwort von Jon Bassoff
©Max Soklov/Adobe Stock

»Wir hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen war, aber als wir aufwachten, lag vor dem Hotel ein totes Pferd auf der Straße.« Mit diesem brillant absurden ersten Satz beginnt Gregory Galloways höllenschwarzer Roman DIE VERPFLICHTUNG, und er bereitet uns in keiner Weise auf den Herzschmerz und die Abgründe vor, die dann folgen. Galloways Roman erinnert an Noir-Größen wie James M. Cain, Dorothy B. Hughes und vor allem Dashiell Hammett, er ist gleichzeitig Liebesgeschichte, Kriminalroman, eine Geschichte über Sucht und Schuld und ein traditioneller Whodunnit.
Auffällig ist die Struktur des Romans. Die meisten Krimis werden linear erzählt und bewegen sich auf ziemlich geradem Weg von A nach B. Galloway aber weiß, dass Beziehungen das Wichtigste im Leben sind und sich im Lauf der Zeit vorwärts und rückwärts entwickeln. Immer wieder wird die Handlung von Ricks Erinnerungen an Frank unterbrochen, seinen ebenfalls (ehemals) suchtkranken Freund und Kollegen. Rick liebt Frank und würde gern nach dessen philosophischen Grundsätzen leben, auch wenn sie manchmal Krimis oder Glückskeksen entstammen. Franks großes Lebensthema ist Kontrolle – oder Kontrollverlust. Er ist überzeugt, »dass die Welt mit einer effizienten unterschwelligen Bösartigkeit operiert; alles läuft nach bestimmten Regeln, und wer achtgibt, kann Schaden von sich abwenden«. Immer wieder kommt es im Roman zu Situationen, in denen die Protagonisten vergeblich versuchen, die Kontrolle zu erlangen. Und sehnen sich Suchtkranke oft nicht genau danach? Frank hat vor allem dann das Gefühl, alles im Griff zu haben, wenn er auf Diebestour geht. Hier kann er dafür sorgen, dass alles seine Ordnung hat, am richtigen Platz ist. Und deswegen bringt ihn das tote Pferd so aus der Fassung. Es symbolisiert den Verlust von Ordnung, die Absurdität der Welt. Aber obwohl Frank und auch Rick irgendwann überzeugt sind, dass allein das tote Pferd den ganzen Horror ausgelöst hat, waren ihre Schicksale schon lange besiegelt, bevor das Pferd in ihr Leben kam. Wir ahnen früh, wie das Ganze endet. Und zwar nicht happy.
Das heißt nicht, dass die beiden keine guten Diebe wären. Das sind sie. Frank achtet auf jedes kleine Detail, für Diebe vermutlich eine nützliche Eigenschaft. Und Rick hat den Vorteil, völlig unauffällig zu sein. Er sagt: »Mein Gesicht bleibt nicht hängen und ist schwer zu beschreiben. Nicht gut aussehend, aber auch nicht hässlich. Beliebig.« Und da sie nie für sich selbst klauen, sondern immer im Auftrag ihres Bosses Froehmer, kommt ihnen bei ihrer Arbeit keine Gier in die Quere.
Im Vordergrund des Romans steht Ricks Liebe zu Frank. Es wäre leicht, hier einen unausgesprochenen homoerotischen Subtext hineinzuinterpretieren, aber ich glaube, darum geht es nicht. Sondern um gegenseitige Abhängigkeit (auch wenn es scheint, als braucht Rick Frank mehr als umgekehrt). Frank sorgt nicht nur dafür, dass Rick auf dem geraden Weg bleibt, er versucht auch, Ricks Leben einen Sinn zu geben. Rick ist in vieler Hinsicht ein Mann ohne Familie. Seine Mutter starb, als er ein Kind war, sein Vater starb, als er ein junger Mann war. Frank wird also ein Bruder für ihn. Frank wird sein Vater. Die Lederjacke, die Frank Rick geschenkt hat, trägt er wie eine Schutzhülle. Ja, er sehnt sich nach Frank, aber nicht auf sexuelle, sondern auf psychologische Weise. Nachdem Frank verschwunden ist, geht Rick durch den Kopf: »Seit ich Frank zuletzt gesehen hatte, waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen. Ich glaube nicht, dass wir in unseren fünf gemeinsamen Jahren je annähernd so lange getrennt gewesen waren. Wir waren immer zusammen.« Er bemerkt ein Buch, das auf dem Tisch liegengelassen wurde, ein auf das Bett geworfenes Hemd, und sagt, dass er ihn die ganze Zeit vermisst. Also, ja: Dies ist eine Liebesgeschichte.

Aber auch ein irrer Whodunnit. Ich habe Galloways Nähe zu Dashiell Hammett bereits erwähnt und die Parallelen zu Der Malteser Falke sind offensichtlich. Wir haben ein mysteriöses Objekt der Begierde (bei Hammett der Falke, bei Galloway die Ziege), das als MucGuffin beginnt, aber im Verlauf der Geschichte immer wichtiger wird. Im Malteser Falken finden wir heraus, dass die Falkenstatue gefälscht ist, was die Sinnlosigkeit der Suche und der Gewalt unterstreicht. Bei Galloway ist die Ziege keine Fälschung, allerdings hat sie nur für wenige Menschen Bedeutung und ist für alle anderen wertlos. All die Toten, all die Gewalt gehen auf diese triviale Lacrosse-Trophäe zurück. Obwohl Rick sich bewusst entscheidet, die Ziege zu holen und vor Froehmer zu verstecken, interessiert er sich nicht für die Statue an sich. Ihr Wert ist ihm egal. Er weiß, dass sie irgendwem etwas bedeutet, aber nicht, warum. Wieder die Absurdität von Gier.
In beiden Romanen wird ein Partner ermordet, und der Protagonist begibt sich auf die Suche nach dem Mörder. Spade konnte seinen Partner natürlich nicht ausstehen, schließlich schlief er mit seiner Frau. Aber er wusste, dass er seinem konstruierten Moralkodex gerecht werden musste. Ricks Motivation ist eine andere. Ihm geht es nicht um einen Moralkodex. Sondern um Liebe. Er muss die Wahrheit herausfinden und Franks Tod rächen, weil er so verdammt leidet.
Und es gibt noch eine interessante Parallele zum Malteser Falken. Nach der Hälfte des Buchs erzählt Sam Spade eine Geschichte, die wie ein Gedankensprung wirkt, aber letztendlich Spades Philosophie erklärt. In der Geschichte geht es um einen Mann namens Flitcraft, der eine profunde Nahtoderfahrung erlebt, als er auf der Straße um ein Haar von einem herunterfallenden Balken erschlagen wird. Dieses traumatische Ereignis lässt ihn begreifen, dass das Leben fragil und der Tod unberechenbar ist. Er beschließt spontan, sein bisheriges Leben samt seiner Familie zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen, das mehr Bedeutung hat. Als er Jahre später gefunden wird, stellt sich heraus, dass er in eine Stadt gezogen ist, die der alten sehr ähnlich ist, eine neue Familie hat, die wie die alte aussieht, und in einem Job arbeitet, der sich kaum von seinem früheren unterscheidet. Spade scheint sagen zu wollen, dass Menschen, egal was sie tun, egal, welche Veränderungen sie anstoßen, immer zum Alten zurückkehren. Und ist das nicht das Leben eines Suchtkranken? Ist das nicht das Leben eines Diebes? Im Lauf der Geschichte spielt Rick immer wieder mit dem Gedanken, sich einen anderen Job zu suchen, ein ehrliches Leben zu leben, aber trotz aller traumatischen Erlebnisse, die ihn dazu bringen sollten, sein Verbrecherleben an den Nagel zu hängen, schafft er es nicht. Das Klauen liegt in seiner Natur. Er arbeitet also weiter für Froehmer – obwohl er ahnt, dass der etwas mit Franks Tod zu tun haben könnte –, weil es seinem Wesen entspricht, ein Dieb zu sein und Befehle auszuführen. Und auch wenn er am Ende schwört, Froehmer aus Rache für alles, das schiefgegangen ist, umzubringen, sind Zweifel an diesem Vorhaben angebracht – selbst wenn Rick die Schusswunde am Ende des Romans überleben sollte. Viel wahrscheinlicher ist, dass er weiterhin für Froehmer arbeiten und stehlen wird. Nicht um des Geldes willen. Sondern weil er ist, wie er ist.

Übersetzt von Karen Witthuhn