Mit einer Zeitmaschine in die Siebziger
Ein Nachwort von Marcus Müntefering
»Glasgow is a Rainbow« – Sister John
»Wenn es etwas gibt, das Glasgow immer noch fesselt und fasziniert,
dann sind es Verbrechen und Gewalt« – Alan Parks

Glasgow? Ist das nicht ein richtig raues Pflaster, diese schottische Stadt, in der es immer regnet? Die hässliche Schwester von Edinburgh?
Nun ja, das mit dem Regen stimmt, wegen des schönen Wetters lebt hier keiner – wobei, kleiner Trost: Wo es viel regnet, gibt es auch mehr Regenbogen. Die Hoffnung stirbt zuletzt in Glasgow, nicht umsonst heißt die Straße, die vom Hauptbahnhof Richtung Norden führt, Hope Street.
Edinburgh schöner als Glasgow? Das können nur Menschen behaupten, die in der schottischen Hauptstadt leben – oder solche, die ohnehin nie so genau hinschauen. Während Edinburgh seine Pracht darbietet wie eine Kurtisane am französischen Hof, liegen die Vorzüge von Glasgow eher im Dunkeln. Und das ist so doppeldeutig gemeint, wie es klingen mag. Glasgow muss man entdecken, und wer dazu bereit ist, wird reich belohnt. Die Stadt am River Clyde hat aber auch, sowohl historisch als auch aktuell, die höchste Kriminalitätsrate in Schottland, 2024 wurden mehr als 52.000 Verbrechen gemeldet, bei nur rund 630.000 Einwohnern.
Glasgow war immer schon eine Stadt der Widersprüche, in den Siebzigerjahren, in denen Alan Parks seine Serie um den Polizisten Harry McCoy angesiedelt hat, ebenso wie heute. Man muss nur mit offenen Augen durch die Gegend gehen.
Nichts von Gewalt und Kriminalität bekommt mit, wer durch Glasgows Westen spaziert. Die Byers Road mit ihren eleganten Cafés und Shops hinunter und an der Universität vorbei, die mit ihrer neugotischen Fassade aussieht, als würde Nosferatu hier herumspuken. Weiter durch den lässigen Kelvingrove Park bis nach Finnieston, einem Viertel, das bis vor gut zehn Jahren als brutal gefährlich galt, inzwischen aber gründlich gentrifiziert ist. Das Schlimmste, das hier heute passieren kann: Du sitzt gerade im besten Pub der Gegend, dem Ben Nevis, und genießt ein Half and Half (kleines Bier und kleiner Whisky), als plötzlich eine Horde asiatischer Touristen einfällt, die vor dem beeindruckend gut sortierten Whiskyregal für ihren Instagram-Account posieren, natürlich ohne etwas zu bestellen. So etwas wäre zu Harry McCoys Zeiten nicht durchgegangen. Zumindest nicht ohne eine ordentliche Tracht Prügel.
Wer es ursprünglicher will, muss das Viertel wechseln – oder die Zeitebene. Im ruppigen East End, über dem eine gigantische Totenstadt, die Nekropolis thront, sieht es mancherorts noch so aus, wie man sich Glasgow vorstellt, wenn man die Romane von Alan Parks liest. Zum Beispiel im Pub Hielan Jessie, einer ziemlich schäbigen, aber super netten Tränke, den die Hamburger Krimiautorin Simone Buchholz in ihrer Liebeserklärung an Glasgow, »River Clyde«, 2021 in eine Märchenkneipe für Erwachsene verwandelte, die ihrer waidwunden Heldin Chastity Riley so etwas wie Trost und Halt bietet. Riley streift in ihrem letzten Fall unermüdlich durch die Stadt, ihr Weg führt sie unter anderem am Great Eastern vorbei, einem ehemaligen Männerwohnheim – ein finsterer Ort, den Alan-Parks-Leser unter dem Namen Great Northern kennen dürften. In MÖGE GOTT DIR VERGEBEN etwa findet Parks’ Polizist dort die Leiche von Alistair Drummond alias »Dirty Ally«.
Auch Parks ist jemand, der sich seine Stadt durch Spaziergänge erschließt. Oder sie so, müsste man vielleicht eher sagen, wiederentdeckt. Denn Parks kehrte erst vor knapp zehn Jahren zurück nach Glasgow, nachdem er gut zwei Jahrzehnte in London gelebt hatte, wo er in der Musikindustrie arbeitete und unter anderem Bands wie New Order, Lloyd Cole and The Commotions und The Streets betreute. Dort befreundete er sich auch mit seinem Landsmann John Niven, späterer Bestsellerautor (»Kill Your Friends«), ohne dessen Ermutigungen Parks wohl nie ernsthaft mit dem Schreiben begonnen hätte. Die beiden Freunde eint nicht nur ihre Herkunft, sondern auch der Mut, mit dem sie als Schriftsteller immer dorthin gehen, wo es wehtut.
Im Fall von MÖGE GOTT DIR VERGEBEN ist das Royston ein Stadtviertel nördlich von Glasgows Innenstadt. Parks war hier während des Covid-Lockdowns viel unterwegs, und wie so oft auf seinen Spaziergängen fand er irgendwann die Idee für einen Roman. Dafür braucht es viel Fantasie, denn das Viertel von damals ist heute nicht mehr wiederzuerkennen, die Autobahn M8, die sich wie die Narbe einer brutalen Messerattacke durch Glasgow zieht, zerschneidet auch Royston. Man muss sich Parks wohl als Spaziergänger vorstellen, der die Füße in der Gegenwart hat, mit dem Kopf aber durch Zeit und Raum reist. Die Stadt als Palimpsest.
Und das war schon immer so: Parks, Jahrgang 1963, wuchs in Paisley auf, einer Kleinstadt etwa zwölf Kilometer westlich von Glasgow, und wenn man ihn heute danach fragt, erzählt er, wie glamourös und überwältigend, wie aufregend und erschreckend ihm die Stadt vorkam, wenn seine Eltern ihn auf einer ihrer Shoppingtouren mitnahmen. Schon damals, so Parks, habe er sich gefragt, wer wohl diese Menschen waren, die er dort sah, Obdachlose, die betrunken in der Gosse lagen, ebenso wie gut gekleidete Männer, die lässig in ihren Rolls-Royce stiegen.
Diese Neugier auf die Geschichten hinter den Orten und Menschen hat sich Parks bis heute bewahrt, und das spürt man beim Lesen. Detailreich beschreibt er die Stadt, wie sie in den Siebzigerjahren war, und sie wird so zu einer Art Protagonist. Vor allem aber geht es ihm um die Menschen – »People Make Glasgow«, wie der Werbespruch der Stadt heißt, der überall auf Plakaten prangt. Die meisten Menschen, die man in Glasgow heute trifft, sind immer noch ein bisschen wie damals: Ein bisschen laut, sehr neugierig, unendlich freundlich. Und trinkfest.
Doch es gibt eben auch die andere, die dunkle Seite, und die fasziniert den Schriftsteller Parks. Sein Glasgow, sagt er einmal, sei das der finsteren Gassen, der verprügelten Frauen und harten Typen, der Rasiermesser-Gangs und Betrunkenen. Als sein Erstling »Blutiger Januar« 2018 auf Deutsch erschien, wurde der Roman von der Kritik gefeiert. Weil lange niemand mehr so geschrieben hatte wie Alan Parks. So hart. So heftig. So intensiv. Im »Spiegel« hieß es damals, dass Parks’ Glasgow sich anfühle wie der Vorhof zur Hölle, ein Geflecht aus Macht und Ohnmacht.
Und mittendrin Harry McCoy, ein Detektiv, der mit sich selbst nicht im Reinen ist, gerade 30 geworden und schon ziemlich verlebt und kaputt. Dessen Karriereaussichten sich durch die Freundschaft zu dem Schwerverbrecher Stevie Cooper nicht gerade verbessern. Eine Freundschaft, die sich durch alle Romane durchzieht und die immer wieder auf die Probe gestellt wird. Cooper ist ein bisschen wie Glasgow: höchst widersprüchlich. Einerseits ein brutaler Karrierekrimineller, andererseits loyal bis zum Äußersten. Zumindest so lange, wie man sich auch ihm gegenüber loyal verhält.
Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass McCoy vier Fälle/Bücher später in MÖGE GOTT DIR VERGEBEN immer noch unaufhaltsam – trotz eines Magengeschwürs – durch seine Heimatstadt stapft, Kippe in der einen, Drink in den anderen Hand, und in der Jackentasche ein Päckchen Speed. Wer gedacht haben mag, dass es, weil dieser Roman im Frühling spielt, in MÖGE GOTT DIR VERGEBEN hoffnungsvoller zugeht als in den Vorgängern, weiß es nach der Lektüre besser. Wenn möglich, verfinstert sich Parks Blick auf Glasgow hier noch. Jugendliche zünden einen Friseurladen an und töten mehrere Frauen, ein Lynchmob fordert ihr Blut, und als sie gewaltsam befreit werden, geraten sie in die Hände von Gangstern, die sie foltern und ermorden. Und als wäre das nicht genug, spielt auch Kindesmissbrauch eine Rolle, und McCoys traumatische Kindheit in diversen Heimen kommt wieder hoch, als er seinen alkoholkranken Vater auf der Straße trifft. Not und Elend, wohin man schaut, und es wäre wahrscheinlich schwer zu ertragen, wenn Parks nicht mit so viel Sympathie für seine Figuren schreiben würde. Und mit einem Humor, der der Verzweiflung abgerungen ist. Komödie ist Tragödie plus Zeit, sagt man. Nun, in Glasgow fällt der Faktor Zeit weg.
Neben Humor ist es auch Hoffnung, die Parks’ Romane bei aller Gewalt, aller Finsternis, allen Abgründen von den Werken James Ellroys unterscheidet, den der Schotte zu Beginn seiner Karriere als großes Vorbild bezeichnete. Bei McCoys manchmal aussichtslos erscheinenden Streben nach Gerechtigkeit – das immer wieder an festzementierten Machtstrukturen und Seilschaften zwischen Politik, Kirche und sich zunehmend organisierendem Verbrechen zerschellt –, gibt es aber immer auch die Andeutung, dass Erlösung möglich ist. Bestimmt nicht für alle, aber zumindest für einige wenige. Für Stevie Coopers 15-jährigen Sohn etwa, der unglaubliches Leid ertragen musste in seiner Kindheit und jetzt zum ersten Mal selbst entscheiden kann, wie es weitergehen soll in seinem Leben, aber auch für McCoy, der trotz schwerer gesundheitlicher Probleme im Laufe der Romane mehr zu sich selbst zu finden scheint, und der sich, umgeben von misogynen und rassistischen Kollegen, als neuer, aufgeklärterer, modernerer Typ von Polizist behaupten muss. Einer, der bei allen eigenen Abgründen, seinen Beruf so versteht, dass es seine Aufgabe ist, den Schwächeren zu ihrem Recht zu verhelfen. Ein Ritter von der traurigen Gestalt mag dieser Harry McCoy sein, aber immerhin: ein Ritter.
Parks selbst war, wie gesagt, noch ein Kind zu der Zeit, während der seine Romane spielen. Seine Erinnerungen sind also lückenhaft, vielleicht sogar unzuverlässig. Doch anders als anderen Krimiautoren geht es ihm bei seinem Schreiben auch weniger darum, tatsächliche Ereignisse in eine fiktive Handlung zu verweben und dafür endlos zu recherchieren. Parks will eine Stimmung evozieren, den Leser spüren lassen, wie es sich anfühlte, im Glasgow der Siebzigerjahre zu leben. Die Ereignisse in den Romanen sind größtenteils erfunden, der Überfall auf den Gefangenentransporter in MÖGE GOTT DIR VERGEBEN ebenso wie – Gott sei Dank – der Bombenanschlag auf die Tennents-Brauerei im Vorgänger DIE APRIL-TOTEN. Was aber daraus entsteht, ist absolut realistisch. Parks zu lesen, ist wie mit einer Zeitmaschine in die Siebzigerjahre zu reisen.
Wie aber war dieses Glasgow der Siebziger? Für Krimi-Enthusiasten ist es keine terra incognita. Sie kennen es aus dem Roman »Laidlaw« von William McIlvanney, dem Vater des schottischen Kriminalromans, der bis heute als Goldstandard in Sachen »Tartan Noir« gilt, ein Label, das McIlvanney übrigens einmal als »total bescheuert« bezeichnete. Kaum ein schottischer Krimiautor, der sich nicht auf McIlvanney und seinen melancholischen Polizisten Jack Laidlaw beziehen würde. Auch Parks kennt und liebt den 2025 verstorbenen Schriftsteller natürlich. Mit ihm verglichen werden möchte er aber nicht, weil er glaubt, dass er niemals so gut sein wird. Das mag wohl stimmen, aber ein Vergleich muss erlaubt sein: Beide schreiben gleichermaßen fasziniert wie faszinierend über ihre Stadt.
Glasgow war einst nach London die »second city« des britischen Empires, ein globales Industrie- und Handelszentrum, vor allem der Schiffsbau machte hier viele reich: Als gleichermaßen dreckig, quirlig, pulsierend, geschäftstüchtig, einfallsreich und ungerecht beschreibt Alan Taylor die Stadt zu ihrer Hochzeit in seinem lesenswerten (leider nicht ins Deutsche übersetzten) Buch »Glasgow: The Autobiography«. Doch in den Fünfzigerjahren begann der Abstieg, Schiffsbau und andere Industrien schrumpften und verschwanden schließlich ganz. Was dafür kam, waren Arbeitslosigkeit, Verzweiflung und Resignation. Soziale Verhältnisse, die die Kriminalität fördern. Aus den Straßengangs wurden in den Siebzigerjahren kriminelle Organisationen mit charismatischen Anführern, auch davon erzählt Parks in MÖGE GOTT DIR VERGEBEN.
Ob aus wirtschaftlicher Notwendigkeit oder purer Gier: Jeder nahm sich, was er kriegen konnte. Und was übrig blieb, war eine Stadt, deren Antlitz so zerstört war wie die Seelen ihrer Bewohner. Ein scheinbar unaufhaltsamer Verfall, angesichts dessen Dimensionen und verheerenden Konsequenzen auch ein Laidlaw oder ein McCoy zu resignieren drohen. Beide wissen, dass auf jeden Fall, den sie aufklären, unzählige andere ungelöste kommen. Das Problem liegt nicht in den Singularitäten, es ist strukturell.
Glasgow, wie wir heute wissen, wird sich erholen, vielleicht nicht zu alter Stärke zurückfinden, aber neue Stärken entwickeln. Zum Beispiel in der Musik, die auch in den Romanen des ehemaligen Plattenlabel-Managers Alan Parks immer wieder eine große Rolle spielt. Ob es der Auftritt von David Bowie ist, der in »Blutiger Januar« ein bisschen Glamour in die Stadt bringt, der fiktive Rockstar in »Bobby March Forever« oder der ironische Einsatz von »Waterloo«, dem Abba-Hit, der in DIE APRIL-TOTEN zum Verdruss von McCoy permanent aus dem Radio plärrt. Seit den späten Siebzigern ist Glasgow ein musikalisches Epizentrum, hier gründete Alan McGee das kurzlebige, aber bis heute enorm einflussreiche Plattenlabel Postcard Records, in den frühen Achtzigern eroberten Glasgows Bands wie Orange Juice und Simple Minds die Popwelt, wenig später The Jesus and Mary Chain, Primal Scream oder The Blue Nile. Und wegen Clubs wie dem Barrowland Ballroom, der regelmäßig zu Europas besten gewählt wird, kommen heute Musiktouristen aus aller Welt in die Stadt.
Ein Wendepunkt in der Geschichte Glasgows, sagt Parks, war sicherlich das Jahr 1990, als es zur Kulturhauptstadt Europas ernannt wurde. Damals erfand sich die Stadt neu, revitalisierte sich, vor allem dank ihrer lebendigen Musikszene. Wenn man mit Parks spricht, bekommt man allerdings ein bisschen den Eindruck, dass diese Wende ihm nicht uneingeschränkt gefällt; ganz sicher ist er kein uneingeschränkter Befürworter der Entwicklung der Stadt in den vergangenen Jahren. Zumindest als Autor interessiere ihn das Glasgow von heute nicht, sagt er, es sei ihm zu gesetzt hier, um darüber zu schreiben. Deshalb wird auch sein Detektiv Harry McCoy nicht für immer ermitteln. Er gehört in diese Siebzigerjahre, diese kaputte Zeit, in der andererseits auch so viel möglich zu sein schien. Aber noch ist lange nicht Schluss für McCoy: In Großbritannien wurde bereits 2023 »To Die in June« veröffentlicht, der Nachfolger liegt fertig in der Schreibtischschublade in Alan Parks’ Zuhause im Süden Glasgows. Und dann? Mal sehen, auf welche Ideen ihn seine Streifzüge durch die Stadt noch so bringen.