Therapie Noir Jon Bassoffs Roman TODESTAUFE
Ein Nachwort von Ulrich Noller

Holt Davidson, wer ist dieser Mann? Ende Dreißig, Anfang Vierzig. Arbeitet für die Feuer-wehr, in Topeka. Einmal hat er eine Heldentat vollbracht, ein Baby aus einem brennenden Haus gerettet. Dieses Licht kann die vielen Schatten aber nicht überstrahlen. Ein Mann aus dem Dunklen. Einer ohne Eigenschaften. Kaum etwas wollte je gelingen in seinem Leben, schon gar nicht Familie, Beziehungen. Nur den Job, den scheint er hinzubekommen, immerhin hat er ihn ja noch. Mehr nicht. Kein Leben, keine Identität, keine Beziehung. Ein Leben mit Kindern, das kann Holt Davidson sich sowieso nicht vorstellen, keinesfalls. Das eine Baby, das er gerettet hat, war schon zu viel des Lichts. Das war eher nicht zu vermeiden, war ja sein Job. Ansonsten bedrängt ihn alles, was mit kleinen Kindern zu tun hat, schon ein Weinen in einem Nebenraum des Motels, hinter der Pappwand, lässt Holt erstarren.
Wer also ist dieser Mann – und wie wurde er zu dem, der er jetzt ist? Klar, die Vergangenheit spielt in jedem Leben ihre Rolle. Mal mehr, mal weniger. Wie sehr, das kann man optimalerweise ja auch selbst entscheiden und gestalten. Bei Holt Davidson, so wird sich zeigen, ist das anders. Er hat keine Wahl. Seine Vergangenheit ist alles entscheidend, alles bestimmend. Nur: Was weiß er überhaupt über diese, seine Vergangenheit? Das Dunkel. Wie viel und was genau ist ihm präsent, was ist jenseits der Erinnerung im Irgendwo des Unterbewusstseins versickert? Ganz verschwunden ist es ja nicht, wie sollte das auch gehen? Die Blitze und die Spots, die ihn überfallen und lähmen, die ihn in Panik erstarren lassen, zeugen davon. Holt Davidson hat es geschafft, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, irgendwann. Er hat sich ein Leben eingerichtet, irgendwie. Entrinnen konnte er diesem Hinten nicht, es ist jederzeit präsent, es bestimmt sein Leben – das eigentlich kein Leben ist. So lange dieses Hinten auch das Vorne ist.
»Die Vergangenheit peinigt die Gegenwart«: ein alles entscheidender Satz in Jon Bassofs Roman TODESTAUFE. Er fällt erst auf Seite 275, aber er war von Beginn an da, ein Leitmotiv für alles, was geschieht und was erzählt wird. Als Holt Davidson diesen Satz denkt, sitzt er seinem Onkel Bobby gegenüber. Überlegt, ob er den Revolver benutzen soll oder nicht. Den Onkel, der allen alle Hoffnung nahm, töten? Holt ist am Ende seiner Reise angekommen, beinahe zumindest. Vielleicht weiß er da noch nicht, warum er der wurde, der er ist. Aber er ahnt es bereits. Und er sitzt dem Mann gegenüber, der alles ausgelöst hat, was geschehen ist. Vielleicht nicht das erste, aber das entscheidende Glied einer fatal-schicksalhaften Kette an Ereignissen und Wirkungen. Der Mann, der eine alles entscheidende Grenze überschritten hat. Der für einen Moment der falschen Befriedigung Leben riskiert und zerstört hat. Vier Leben. Auch das von Holt Davidson. Gegen jede Ethik, gegen alles Recht. Hat dieser Mann das Recht, weiterzuleben? Die Entscheidung, die Holt trifft, zeugt davon, dass er möglicherweise schon ein Stück weit der ist, der er werden könnte, am Ende der Geschichte. Wenn er überlebt.
Die Schuld des Onkels hat auch die Schuld bewirkt, die Holt auf sich geladen hat. Das Dunkel seines Lebens, das auch das Dunkel seiner Mutter ist, und das der Schwester. Keine Hoffnung für niemanden, der Schwester und der Mutter bleiben lediglich Wahnsinn und Tod. Eine Familiengeschichte des Dunklen. In einer Gesellschaft, die genau so etwas nicht bloß ermöglicht, sondern auch befördert. Es ist die nie wirklich überwundene Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Gestern, zu der jetzt, in der Gegenwart, Teile dieser Gesellschaft zurückkehren wollen. Plus ein geradezu biblisch anmutendes Familiendrama – das als Motor der Geschichte eine ungeheure Wucht entfaltet. Mit aller Macht: Dieses Drama muss enträtselt und entschleiert, es muss in all seinen Facetten offen gelegt werden, das ist die einzige Möglichkeit, diesen Druck zu mildern, in dessen Sog sich Holt bewegt. Wie kann man solch eine Geschichte erzählen, wenn nicht als Noir?
Unglaublich, ungeheuerlich teils auch, welch starke, teils im besten Sinn plakative, dann aber auch wieder detailstarke Bilder Jon Bassoff findet, um das Geschehen und das Geschehene zu illustrieren. Auch diese Bilder verkörpern das Gestern im Heute, die peinigende Vergangenheit in der Gegenwart. Das abgebrannte Haus, der Brunnen, die Erhängte. Das Jugendzimmer der Schwester, bevor sie im Schatten verschwand. Überhaupt, die Ausstattungen der Räume. Und die der urbanen Topographien: Straßen ins Irgendwo, architektonische Silhouetten der Verlorenheit. Der Trailerpark, die Motels und Bars, die Psychiatrie. Behausungen der Unbehausten, Insignien einer Gesellschaft der Verlorenen. Und: Topoi des Noir, die schon x-fach zu lesen und zu sehen waren, die hier aber doch mit aller Macht wirken können wie neu, weil Jon Bassoff sie so versiert zu inszenieren weiß, dass sie unverbraucht ihre Wirkung tun können. Das wiederum gelingt nur deshalb so überzeugend, weil Bassoff eben mit der Energie des Dramas operiert, das seiner Geschichte zugrunde liegt. Also: Mit der Energie der Gefühle, die in allem, unter allem und über allem wirken. Der Mahlstrom des Vergessenen und Verdrängten – konzentriert bei Holt.
TODESTAUFE ist ein Noir. Aber ist dieser Roman auch ein »Krimi«? Jon Bassoff erzählt von Morden und anderen Verbrechen, es gibt Täter und Opfer, es geht spannend zu, Rätsel werden gelöst, die Polizei spielt eine Rolle, und zwar korrupt – mehr als genug an Ingredienzien für einen astreinen Krimi also, der sich gewaschen hat. Trotzdem aber: eher »kein Krimi«: das familiäre und auch gesellschaftsbedingte Drama steht im Zentrum von allem, der ganze Rest leitet sich im Prinzip davon ab. Oder dient dazu, dort hinzuleiten. Beim dramatischen Kern dieser Familiengeschichte liegt der Schwerpunkt mit einer solchen Intensität, dass alles andere zum Beiwerk wird. Was keinesfalls heißen soll, dass Bassoff nicht alle Krimimuster, die nichtsdestotrotz vorhanden sind, doch exzellent inszeniert, dramatisiert und erzählt. Auch sein Informationsmanagement zwischen Vergangenheit und Gegenwart entfaltet sich exzellent, und damit schwingt auch die Klaviatur der Spannungsebenen.
Wo Schatten alles verdunkelt, muss natürlich, irgendwo, auch Licht sein. Ist dieses Licht erreichbar? Kann es heller dimmen, möglicherweise sogar hell scheinen? Das ist die Ermittlung, die Holt Davidson unternimmt – also das Geschehen, durch das Jon Bassoff uns mit ihm führt. Um das Licht finden zu können, muss Holt das Dunkel durchdringen. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn er zunächst immer noch tiefer ins Dunkel eintaucht. Ins tiefste Dunkel. Holt muss sich seinen dräuendsten Schatten stellen, um ihre Ursprünge zu erkennen, und das gelingt nur mit den Mitteln der Erkenntnis: der Auf-Klärung. Je mehr er weiß, desto besser kann er verstehen, desto durchsichtiger wird das Dunkel. Nicht heller, denn es wird auf eine Weise ja fast bis zuletzt auch immer dunkler zugleich. Aber es finden sich Lichtungen. Erkenntnisse. Inseln des Erklärbaren. Holts Reise, die alles andere als eine Heldenreise ist, hat, wenn man so will, etwas Therapeutisches.
Nichts wird besser, nichts kann ungeschehen gemacht werden. Aber der Blick ändert sich, die Bewertung, die Resilienz, der Umgang. Sodass Holt Davidson, was seinen Onkel Bobby angeht, letztlich eine gute Entscheidung treffen kann. Seine Entscheidung. Therapie Noir.
Eine letzte und entscheidende Prüfung steht dann noch an. Im See. Dort, wo das Unheil seinen Lauf nahm. Wo die Mutter Trost und Reinwaschung suchte, wo sich doch nur Trauma fand, für alle. Trauma und Tod. Die TODESTAUFE, die Holt so oft erfahren hat, die er selbst beging, mit der er jetzt abschließen kann. Indem er mit Hilfe seiner Erkenntnis die fatale Schicksalhaftigkeit des Dunkels durchbricht. Aufklärung versus Glauben, auch das ist mithin ein Statement, das dieser Roman setzt. Eingangs seines Textes zitiert Jon Bassoff den Römerbrief, Kapitel 6, 4: «Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben.« Holt Davidson also, der zu dem wurde, der er war. Wer kann dieser Mann in Zukunft sein? Der, der er sein will. Ein neuer Mensch. Möglicherweise.