Mit dem Kopf durch die Wand
Ein Nachwort von Peter Henning

Die Erzählung von der untergetauchten oder aus mysteriösen Gründen verschwundenen Person ist wahrscheinlich so alt wie der Kriminalroman selbst – ein unzählige Male variierter, nicht tot zu kriegender Dauerbrenner aus dem Setzkasten des Genres.
In den Klassikern der Gattung macht sich ein von besorgten Freunden oder Verwandten engagierter Privatdetektiv auf die Suche, um sich alsbald mit Männern herumzuschlagen, denen seine Nachforschungen partout nicht in den Kram passen. So in den amerikanischen Hardboiled-Prunkstücken der späten 1940-er Jahre wie etwa Raymond Chandlers »Die kleine Schwester«, in welchem Philip Marlowe sich auf Bitten der undurchsichtigen Orfamay Quest auf die Suche nach ihrem verschwundenen Bruder Orrin begibt – und darüber in ein Dickicht aus Täuschung, Mord und Niedertracht gerät.
Die Liste all der durch Chandler, Dashiell Hammett, Carroll John Daly oder James M. Cain inspirierten Genrestücke, die diesem Strickmuster seither folgen, ist inzwischen wahrscheinlich so lang wie der Hollywood Boulevard, an dem sich Marlowes Büro befindet.
Wie man diese Geschichte indes erzählen kann, ohne sie bloß einmal mehr mit dem altbekannten Personal des Hardboiled-Private Eye-Krimis zu besetzen, das demonstriert der aus Van Buren County in Arkansas stammende Jake Hinkson, Nachkomme einer kleinen Riege gottesfürchtiger Kirchenleute in DIE TOCHTER DES PREDIGERS. Er tut es, indem er die Suche nach dem eine Woche vor seiner geplanten Hochzeit spurlos verschwundenen Peter Cutchin seiner schwangeren, gerademal 18-jährigen Verlobten überlässt; einer jungen, wunderbar eigensinnigen Person, die unbeirrbar ihren entfesselten emotionalen Fliehkräften folgt und dabei auf unwiderstehliche Weise so lange mit dem Kopf durch die Wand will, bis die Pforten zur Wahrheit sich für sie öffnen – und der Roman in ein ebenso überraschendes wie packendes Finale mündet.
War es bei Chandler noch ein aus den Fugen geratenes L.A., in dessen Straßen und Apartments Philip Marlowe nach dem suchte, was sein Schöpfer pathetisch die »Verborgene Wahrheit« nannte, so lässt Hinkson seinen Stoff in einem Nest namens Conway in Arkansas abrollen, in dem eine Horde bigotter, von ihrem dogmatischen Glauben an den Heiligen Geist geleiteter Pfingstkirchler jedem Abweichler rigoros den Kampf ansagt. Doch weil ihr Drang, herauszufinden, was Peter dazu brachte, sie sitzen zu lassen, größer ist als ihr längst bröckelnder Glaube an eine Instanz, die es ihr untersagt, sich zu schminken oder sich die Haare zu schneiden, beginnt die junge Lily Stevens auf eigene Faust zu ermitteln; dass dabei ausgerechnet ein schwuler, in der Gemeinde von allen gemiedener Hüne zu ihrem verlässlichen Mitstreiter wird, bürstet das Klischee vom smarten, mit allen Abwassern gewaschenen Fährtenleser lässig gegen den Strich.
Mit Jake Hinkson ist im Schatten der Amerikas große Literaturbühne bislang bespielenden Autorinnen und Autoren eine Stimme herangereift, die das Zeug dazu hat, demnächst in deren Phalanx vorzustoßen; denn er ist einer, der es wiederkehrend gekonnt versteht, dem klassischen Gesellschaftsroman das dunkel schimmernde Leibchen des hartgesottenen Noir-Romans überzustreifen; im Zuge dessen senkt er seine Sätze wie akustische Sonden in die aufgeriebenen Seelen der von ihm in den Fokus Genommenen, um hör- und fühlbar zu machen, was in ihnen Krankes tickt und rumort. Das Resultat sind schonungslose Abrechnungen mit einem dogmatisch-religiösen Partikular-Amerika, das sich in verstiegenen Glaubens-Enklaven eingerichtet hat – und seine fragwürdigen sogenannten »Wahrheiten« mit dem bornierten, veränderungsresistenten Zynismus geifernder Absolutisten propagiert.
Hinkson, der in seinen Romanen den White Trash eines Daniel Woodrell mit dem furchtlosen Aberwitz eines Donald Ray Pollock zu etwas ganz Eigenem amalgamiert, inszeniert den Clash zwischen dem säkularen Amerika, in dem Gewalt und Niedertracht allerorts an der Tagesordnung sind, und dem hinterwäldlerischen Denken und Tun sich selbst zu besseren Menschen erklärenden Sektenmitgliedern mit bisweilen alttestamentlicher Wucht und Härte: Auf der einen Seite Zwangsprostitution, ein von zwei skrupellosen Monstern mit einem Schwert angerichtetes Massaker und eine Polizei, die am Ende betreten die abgetrennten Köpfe zweier Jugendlicher eintütet; auf der anderen von Doppelmoral getriebene Frömmler, die sich durch ihren Glauben, der keinen Widerspruch duldet, vorgeblich gegen all das gefeit und gewappnet fühlen. Und mittendrin: Eine achtzehnjährige Donna Quichotte, die begleitet von ihrem hünenhaften Sancho Pansa solange mutig gegen Windmühlen kämpft, bis ihre Beharrlichkeit Früchte ihres Zorns zu tragen beginnt – und sie am Ende zwar trotzdem wie mit leeren Händen dazustehen scheint, darüber aber der Wahrheit, die sie benötigt, um weiterleben zu können, ans Licht verholfen hat.
Jake Hinkson richtet den Scheinwerfer auf Wesen, die in Zeiten, da Begriffe wie Verantwortungsbewusstsein und Aufrichtigkeit zu Schimpfwörtern verkommen sind, Haltung beweisen, – die Charakter, Mut und Widerstandskraft im Kampf für ihre Überzeugungen an den Tag legen und bereit sind, dafür Kopf und Kragen zu riskieren. Denn ähnlich wie der verheiratete Kleinstadtprediger Richard Weatherford, der in Hinksons Roman VERDORRTES LAND den waghalsigen Spagat zwischen aufrechter Glaubensarbeit und seinen homosexuellen Neigungen hinzubekommen versucht, vertraut und folgt Lilly Stevens gegen alle Widerstände dem Kompass ihrer ganz und gar wetterfesten Moral. Dass sie dafür manchen Tiefschlag einstecken muss und am Ende sogar beinahe tödlich verletzt wird nimmt die junge Frau billigend in Kauf. Denn sie ist eine, die nicht anders kann. Und weil Gott immer dann gerade anderswo zu tun hat, wenn sie ihn braucht, vertraut sie auf die Eindruck machende Physis ihres Mitstreiters – und die seines Revolvers.
So folgen die beiden konsequent ihrer weiblichen Intuition – und genau das macht Lily Stevens als literarische Figur so interessant. Und natürlich bewahrt Hinkson sie vor dem letzten Schritt in den Abgrund. Auch darin erinnert er an Chandler, in dessen Büchern der Sucher nach der Wahrheit am Ende – wenn auch ramponiert – für seinen Widerstand belohnt wird, indem er über die Lüge, die Gleichgültigkeit und die Niedertracht triumphiert.
Dass Jake Hinkson obendrein eine schnörkellose hemingwayhafte Prosa schreibt, die ihr Thema frontal und direkt angeht, statt sich billiger Tricks oder Kniffe zu bedienen, zeigt, dass ein guter Kriminalroman herausragende Literatur sein kann, und dass die sogenannte Trivialliteratur uns oft ein besseres Verständnis der Welt liefert, in der wir leben, als das herkömmliche Belletristik in der Regel zu tun vermag. Denn es sind unsere Verfehlungen, Entgleisungen und kleinen und großen Kämpfe darum, halbwegs in der Spur zu bleiben, von denen Jake Hinksons Kriminalromane erzählen.
Und zuletzt: Es fließt nicht wenig Blut in DIE TOCHTER DES PREDIGERS, und in manchen Momenten des Romans scheint sein Verfasser empfänglich zu sein für jene »Poesie der Gewalt«, für deren cineastische Beschwörung die Coen-Brüder berühmt wurden – man denke nur an ihre Adaption des McCarthy-Romans »No Country For Old Men«. Doch Hinkson ist klug genug, der Verlockung im entscheidenden Moment zu widerstehen, sodass er sich nicht an der Beschreibung exzessiver Brutalität delektiert, wie sie im Buch geschieht, sondern gerade dadurch Wucht und atmosphärische Dichte erzeugt, dass er uns die Ausgestaltung der Tat selbst verweigert – und uns stattdessen die Stille danach in ihrer ganzen beklemmenden Monstrosität hör- und fühlbar macht.
»Das Leben ist kein Tauschgeschäft!«, sagt eine Figur in einem Non-Maigret-Roman von Georges Simenon. Wie recht sie damit hat, davon kann Lily Stevens ihr Lied singen. Und es ist ein trauriges Lied. Denn das neue Leben, dass sie am Ende des Romans zur Welt bringt, kann das verloren gegangene seines Vaters Peter nicht ersetzen. Gleichwohl aber – und daran lässt ihr Schöpfer keinen Zweifel – ist das Glück trotz allem immer möglich. Denn genau davon handeln die Romane des ins Gelingen vernarrten Idealisten Hinkson: Von der Gewissheit, dass am Ende des Tunnels – und möge er seinen Geschöpfen auch bisweilen unendlich erscheinen – das Licht der Erlösung auf sie wartet.