Das Mädchen und die Rüstung

Ein Nachwort von Günther Grosser
©Max Soklov/Adobe Stock

Ned Kelly war ein Strauchdieb, heute gilt er als Volksheld. Zwischen 1869 und 1880 überfiel er mit seiner Gang Eisenbahnzüge und Kutschen, stahl Pferde, Schweine und Vieh, raubte Banken aus, nahm Geiseln und erschoss mindestens vier Polizisten. Sein Markenzeichen war eine selbstgeschmiedete eiserne Rüstung, mit der er beim letzten großen Shootout der Polizeitruppe entgegenschritt und durch den Kugelhagel hindurch im Wald verschwand, wo man ihn später schwer verwundet auffand. Im Alter von zehn Jahren rettete er einen siebenjährigen Jungen vor dem Ertrinken; dafür schenkte man ihm eine grüne Schärpe, die er fünfzehn Jahre später bei seinem letzten Gefecht unter der Rüstung trug. 1879 schrieb er einen 56 Seiten langen Brief, den Jerilderie Letter, eine Art Manifest mit Vorwürfen wegen Korruption und Brutalität in der berüchtigten Victoria Police und einer Rechtfertigung seiner Taten. Im Alter von 25 Jahren wurde er in Melbourne gehängt.
In Australien wird man lange brauchen, bis man jemanden findet, dem all das nicht bekannt ist. Fragen Sie eine Person von Down Under nach dem berühmtesten Australier und Sie werden in neun von zehn Fällen die Antwort Ned Kelly bekommen.
Jetzt ist aus Kelly eine freche Göre geworden, Ruby McCoy, wild, voller Energie; sie liebt ihren Vater, diesen verträumten Plänemacher, der nichts auf die Reihe kriegt, sie hopst herum, rettet einen Jungen vor dem Ertrinken, das Leben könnte schön sein, wären da nicht die anderen, die Healys und Konsorten, die immer im unpassenden Moment zur Tür reinplatzen und Ärger machen. Wir verstehen sehr gut, dass ihr da irgendwann der Kragen platzt wie damals Ned Kelly.
In Europa erfuhr man von Kelly zuerst 1970 durch den gleichnamigen Film von Tony Richardson, in dem Rolling-Stones-Sänger Mick Jagger den Gangster spielte, und hielt den komischen Hinterwäldler mit dem Zauselbart für eine Art australischen Billy the Kid – und lag damit gar nicht so falsch. Davor waren in Australien bereits sieben Kelly-Filme für Kino und Fernsehen gedreht worden, der erste bereits 1904, gerade mal ein wenig mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Tod. Der nächste, »The Story of the Kelly Gang« von 1906 gilt mit über einer Stunde Spieldauer als der längste Spielfilm der damaligen Zeit. In den folgenden Jahrzehnten kamen zahlreiche hinzu.
Das Image Kellys hat sich im Zuge der kulturellen Beschäftigung mit seiner Geschichte mehrfach gewandelt, pendelte zwischen Robin Hood und Terrorist, zwischen dem gutherzigen Rebellen, dem übel mitgespielt wird, und dem rücksichtslosen Verbrecher, der bereit ist, skrupellos zu morden; je nach Zeitgeist, nach kultureller Konjunktur und entsprechenden Befindlichkeiten betonte man eher die kriminellen Aktivitäten seiner Bande oder die krassen Benachteiligungen seiner irisch-stämmigen Bauernfamilie im britischen Kolonialregime oder das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit oder Polizeibrutalität und Behördenwillkür oder die jugendliche Unbekümmertheit der Kelly-Gang. Zuletzt versuchte sogar eine rechtsradikale Splittergruppe sein Rebellen-Image für ihr rassistisches »White Australia«-Konzept einzuspannen.
Worauf man sich in Australien jedoch immer einigen konnte und immer kann, sind die Primärtugenden Mut und Unabhängigkeitsdrang – Kelly war ein Junge, der für Zäune nichts übrighatte und dem die Willkür der Behörden gegen den Strich ging; und er hatte den Mut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Auf der Hälfte der Zeit zwischen Ned Kelly und uns, mitten in der europäischen Katastrophe, fand diese Haltung Eingang in den intellektuellen Diskurs, als Albert Camus 1942, in »Der Mythos von Sisyphos« drei Begriffe und ihre Konsequenz aufreihte und in philosophische Stellung brachte: »Revolte, Freiheit und Leidenschaft«. Bei Freiheit und Leidenschaft war man sich seit langem einig, aber Revolte, das klang nach Aufstand, Regelbruch und Gewalt – ist sie nicht die kleine Schwester der Revolution?
60 Jahre später kommt bei Felicity McLeans Ruby McCoy noch das ständig köchelnde Bedürfnis nach Rache hinzu. Ihre Leitfiguren stammen allerdings nicht aus dem Handbuch des französischen Existenzialismus sondern aus dem griffigen »Goldenen Schatz der griechischen Mythologie«, ein Buch mit grünem Einband – ihre Kelly-Schärpe – das sie für die Rettung des Ertrinkenden bekommen hat. Dort haben es ihr die blutsaufenden Keres besonders angetan – »die grausam
strafenden Keren / Welche, der Menschen und Götter Vergehungen strenge verfolgend, / Nie, die Göttinnen, ruhn vom schrecklichen Grimme des Zornes, / Bis sie verderbliche Rach’ an jedem geübt, der gesündigt.« Und in Rubys ständig wachsender Angst und Abscheu vor Behördenwillkür und sadistischen Polizeiattacken, die dann in der finalen Revolte auf dem Schrottplatz gipfeln, manifestieren sich am deutlichsten die Parallelen zur Kelly-Story. Wie Ned Kellys Mutter wird Rubys Vater Sid ständig schikaniert, herumgeschubst und schließlich ins Gefängnis gesteckt. Wie Kelly muss sie immer wieder völlig überzogene Polizeimaßnahmen und Brutalitäten mit ansehen, Korruption ist Alltag und niemand hat der Polizei etwas entgegenzusetzen. Schließlich wird sie oft genug selber hineingezogen, bis ihr eben der Kragen platzt. Die Geschichte dieser Entwicklung ist, wie Felicity McLean in ihrem Vorwort schreibt »eine Geschichte über ungewöhnliche Freundschaften und Kleinstadt-Loyalitäten«, als Thriller jedoch ist es die Geschichte von Rubys Revolte – vom nagenden Groll über den giftigen Zorn bis zum eiskalten Hass – erzählt in einem langen Monolog aus dem Gefängnis. Dieser Monolog ist der Roman RED – und Ruby McCoys Jerilderie-Letter.
Bevor er mit seiner Gang in der kleinen Stadt Jerilderie einfiel, diktierte Ned Kelly einem seiner Banden-Mitglieder einen Brief an die australische Öffentlichkeit in die Feder. Er versuchte darin, seine Taten zu rechtfertigen, darunter die Ermordung von drei Polizisten, beschrieb Fälle von Polizeikorruption und forderte Gerechtigkeit für arme Landfamilien. Der Schreiber brauchte dafür 56 Seiten. Während des Überfalls suchte Kelly den Herausgeber der örtlichen Zeitung, um sein Pamphlet drucken zu lassen. Als der nicht aufzufinden war, übergab er das Konvolut mit einer wüsten Drohung an einen Bankangestellten, der sich jedoch ein Pferd schnappte – alles wie im klassischen Western – und Richtung nächster Eisenbahn-Station davonpreschte. Acht Meilen außerhalb des Dorfes übernachtete er und ließ den Hotelbesitzer eine Kopie der Papiere anfertigen (56 Seiten, handschriftlich!), die dieser mit der Überschrift »Ned Kelly´s Confession« versah. Das Original reiste am nächsten Tag mit dem Bankangestellten nach Melbourne und landete in den Aktenschränken der Bank of New South Wales. Die Polizei sprach sich gegen eine Veröffentlichung aus, konnte allerdings nicht verhindern, dass Teile davon an die Presse durchsickerten und kurz nach dem Überfall gedruckt wurden. Das gesamte Dokument wurde allerdings erst fünfzig Jahre später publiziert.

Der Jerilderie-Letter ist eine wilde, röhrende und röchelnde Suada, holprig und ohne Rücksicht auf sprachliche Konventionen: »Ich habe mich nie bei irgendwem eingemischt, außer, sie hatten es verdient und doch gibt es Zivilisten die aus mir unbekannten Gründen Feuerwaffen gegen mich einsetzen. Außer, sie wollen, dass ich mich gegen sie wende und sie auslösche. Ohne Medizin werde ich genötigt sein an einigen von ihnen ein Exempel zu statuieren, wenn sie keine andere Beschäftigung finden. Wenn ich jeden, der mir begegnet ist, ausgeraubt und geplündert, geschändet und ermordet hätte, jung und alt, reich und arm, könnte die Öffentlichkeit nichts anderes tun als Feuerwaffen zu nehmen und die Polizei dabei zu unterstützen, wie sie es getan haben. Doch bei Licht betrachtet, auf einen Ameisenhaufen gebunden, mit offenen Bäuchen, ihr Fett ausgeweidet, ausgelassen und kochend heiß in ihren Rachen geschüttet wird man sich täuschen, welche Vergnügen ich einigen von ihnen bereiten werde.«

Der Originaltext ist auf der Website des National Musum of Australia zu finden (https://www.nma.gov.au/explore/features/nedkelly-jerilderie-letter), die Übersetzerin des Romans, Kathrin Bielfeldt, hat ihn für den Polar-Verlag ins Deutsche übertragen – einzusehen auf der Website des Verlages – und dabei behutsam Interpunktion eingesetzt, »damit man etwas zum Luft holen kommt beim Lesen«. Das kann sie uns bei RED nicht gönnen, der durchgehende Redefluss ist ein zentrales Stilelement Felicity McLeans; er bildete allerdings für Bielfeldt im Vergleich zu Kellys Pamphlet eine geringere Herausforderung. »Gegen den Jerilderie-Letter ist Rubys Redeschwall harmlos«, sagt sie bei einem Gespräch – es ist immerhin ein Jargon unserer Zeit, und die Schwierigkeit für den Leser besteht hier eher in den Verschmelzungen der Satzteile, dem Fragmentierten und Weglassen, dem ununterbrochenen Reden so wie Ruby uns hier zum Beispiel den Bösesten der Bösen, Sergeant Healy, präsentiert: »Ich mag keine losen Enden und ich traue niemandem zu meine Sauerei anständig aufzuräumen denn sie versauen es jedes Mal und darum sind wir hier stimmt’s Gentlemen man kann es nicht anderen überlassen hinter einem aufzuräumen denn woher soll man wissen ob sie nicht dein scheiß Gras verschneiden!« Da lernt man als Leser schon nach wenigen Sätzen den Segen der Interpunktion wieder schätzen.

Aber Ruby hat nichts übrig für Kommas; sie sitzt im Gefängnis und wartet, vielleicht, wie Ned Kelly, auf den Galgen, denn die Todesstrafe wurde in Australien je nach Bundestaat erst schrittweise in den 70er und 80er Jahren abgeschafft, bundesweit dann endgültig 1995. Der Roman spielt kurz davor, abzulesen an den Automodellen, die vom ersten Satz des Romans an eine bedeutende Rolle spielen, moderne Transportmittel, Ned Kellys Pferde in Rubys Zwanzigstem Jahrhundert, überlebenswichtig. Healy weiß was er ihm antut, wenn er Sids Auto kaputtmacht. Sandmans, Toranas, Ford Falcons XC, Holden Sunbirds, Charger Valiants, allesamt australische Modelle aus den 1970er Jahren. Am Ende stehen sie auf dem Schrottplatz herum, wo Ruby sich zum letzten Shootout stellt, »tausende alter Karren … alle in einem ordentlichen analfixierten Healy-Muster aufgestellt.« Ruby McCoys Kelly-Rüstung besteht aus einer Autotür.